,Ich will sehen, was für die Juden hier getan wird'

■ Eine Bremer Jüdin besuchte 60 Jahre nach ihrer Flucht ihre Geburtsstadt. 1933 hatte Karstadt sie entlassen.

„Ich habe doch mein ganzes Leben in der zweiten Reihe gestanden“, sagt Lotte R. von sich selbst. Daher möchte sie auch nicht mit einem Foto in die Zeitung, auch ein Interview sei schon fast zuviel. 1936 konnte die damals 22jährige vor den Nazis aus Bremen nach Südafrika flüchten. In der vergangenen Woche besuchte die vitale und doch so vorsichtige Frau zusammen mit ihrer Enkelin ihre ehemalige Heimatstadt. Der Senat hatte sie zusammen mit elf vertriebenen Juden und Jüdinnen aus aller Welt nach Bremen eingeladen.

taz: Wie gelang es Ihnen, Bremen zu verlassen?

Lotte R.: Ich hatte einen Vetter, der von Amerika nach Südafrika gegangen war, und der hat meine Schwester angefordert, die eigentlich Hutmacherin war. Die konnte bei Leuten in Johannesburg als Haushälterin arbeiten, die brauchten aber noch eine Kinderfrau. So habe ich meine Ausreiseerlaubnis bekommen. 1936 bin ich ausgewandert mit der „Adolf Wührmann“.

Und was war mit ihrer Familie?

Ich habe meine Mutter, meinen Bruder und viele Verwandte hiergelassen. Viele Verwandte habe ich verloren, die nach Dachau gekommen sind.

Was hatten Sie vorher in Bremen gemacht?

Ich habe bei Karstadt Schneiderin gelernt. Damals war ich zwanzig. Mein Vater ist 1921 als Weltkriegsveteran gestorben. Meine Mutter hat uns allein aufgezogen. Wir haben mit meinem Onkel in der Mozartstraße 25 gewohnt.

1936 glaubten viele Menschen noch, den Nationalsozialismus in Deutschland überleben zu können.

Es fing damit an, daß ich gleich im Februar 1933 bei Karstadt entlassen wurde. Dann habe ich die drei Jahre, die ich noch hier war, im Haushalt bei jüdischen Leuten gearbeitet.

Wie haben Sie die Stimmung hier in Bremen in Erinnerung?

Sehr schlimm. Das Schlimmste war, als ich zur Gestapo am Wall gehen mußte, bei der Polizei da um die Ecke. Kurz vor meiner Ausreise. Wie die uns behandelt haben! Ich hatte große Angst. Abends sind wir dann auf das Boot raus, und morgens waren wir immer noch im Hafen und das war das Schlimmste. Sie hätten uns immer noch rausholen können.

Wie haben sich ab 1933 die Nachbarn oder die Leute auf der Straße verhalten?

Das habe ich vergessen.

Und was geschah dann mit Ihrer Mutter?

Ich hatte meinen Mann, der aus Krefeld fliehen konnte, kennengelernt, wir haben nach einem halben Jahr in Südafrika geheiratet. Dann fing der Kampf ums Überleben an, denn wir mußten unsere Eltern auch raus kriegen. Meine Mutter kam mit meinem Bruder 1939, meine Schwiegereltern kamen 1941 aus Deutschland raus. Das war natürlich sehr schwer für uns. Wir mußten hart arbeiten, um das Geld, was wir uns geborgt hatten für die Flucht unserer Eltern, zurückzuzahlen. Mit Zinsen.

Konnten Ihre Mutter und Ihr Bruder bis zur Flucht in der Mozartstraße wohnen bleiben?

Ja, sie sind von dort aus weg.

Konnten Sie Sachen mitnehmen?

Nein, die Gestapo war die ganze Zeit beim Packen dabei. Ich habe auch nicht viel mitnehmen können, nur einen Koffer. Ich habe damals zehn Pfund (Währung, d. Red.) für Südafrika bekommen.

Wie ging es Ihnen in den ersten Jahren in Südafrika?

Es war sehr schwierig. Mal hatten wir Arbeit und Geld, dann wurde man wieder entlassen und hatte kein Geld. Dann haben deutsche Juden jeden Monat gesammelt und ein Altenheim gegründet, wo wir meine Schwiegereltern unterbringen konnten. Die sind mit nur 56 Jahren ins Altersheim, da waren sie wenigstens versorgt.

Was haben Sie später inSüdafrika gemacht?

Wir haben immer irgendwo gearbeitet, bis 1963. Dann haben mein Mann und ich ein Wäschegeschäft aufgemacht. 1965 kam dann die Wiedergutmachung der Deutschen, das hat uns sehr geholfen und hilft uns immer noch. Dadurch konnten wir leben. Mein Mann war 17 Jahre lang krank.

Mit welchen Gefühlen sind Sie nach fast 60 Jahren nach Deutschland gekommen?

Well, ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen, ich bin mit einer Open Mind gekommen. Ich wollte sehen, wie Bremen aussieht, meinen Wohnort nochmal angucken und sehen, was für die Juden hier gemacht wurde. Weil ich gehört hatte, daß es hier wieder eine jüdische Gemeinde gibt.

Wir sind wunderbar aufgenommen worden. Der ganze Senat war wunderbar. Ich gehe mit dem Eindruck großer Hoffnung für die jüdische Gemeinde hier weg. Heute abend gehe ich zur Synagoge. Ich war auf dem jüdischen Friedhof, wo das Grab meines Vaters in guter Verfassung ist und habe auch das Grab meiner Großeltern gefunden, von dem ich gar nicht mehr wußte. Bremen zeigt, daß es alles wieder gutmachen will.

Verfolgen Sie die deutsche Geschichte in der Zeitung inSüdafrika?

Ich kann zu schlecht deutsch, um deutsche Zeitungen zu lesen. Ich spreche nur mit meinen Freundinnen im Altersheim in Johannesburg deutsch.

Sie haben keine schlechten Gefühle?

Ich muß Ihnen ehrlich sagen, in Johannesburg in unserem Geschäft haben sehr viele junge Deutsche gekauft, denen haben wir teilweise sogar geholfen, Wohnungen zu finden. Mein Mann und ich haben vergessen, aber nicht vergeben. Wir hatten später sogar deutsche Freunde. Manche Kinder oder auch Ältere wußten gar nicht, was Juden sind. Wenn Deutsche reinkamen, haben wir immer gleich gesagt, dieses ist ein jüdisches Geschäft. Die haben dann gesagt: Wir haben noch nie Juden gesehen und wissen nicht, weshalb die anders sein sollten.

Ist Antisemitismus ein Problem in Südafrika?

In der ganzen Welt gibt es Antisemitismus. Jetzt mit der schwarzen Regierung ist es nicht so schlimm, wie mit der anderen Regierung.

Inwiefern?

Die haben soviel mit sich selber zu tun. Die deutschen Juden haben Geschäfte nach Südafrika gebracht, damals war es dort ja sehr rückständig. Keiner hat damals die Schaufenster dekoriert.

Haben Sie noch Kontakte navch Bremen gehabt?

Nein, wir haben alle Kontakte damals abgebrochen, und später hatten wir keine Zeit, Briefe zu schreiben und sie wieder aufzunehmen. Es war alles so schwer in Südafrika.

Wie haben Ihre Freunde und Freundinnen das aufgenommen, als Sie sagten, daß Sie nach Deutschland fahren?

Mit sehr gemischten Gefühlen. Ich weiß nicht, ob mein Mann mitgefahren wäre. Die Zeiten haben sich geändert, aber die wollen von den Deutschen nichts wissen, von den Juden auch nicht. Die verstehen auch die Wiedergutmachung nicht. Das ist ein Kapitel für sich. Als wir deutsche Juden in Johannesburg ankamen, waren wir nicht sehr beliebt. Wir waren ja Deutsche.

Konnten Sie sich in die jüdische Gemeinschaft in Johannesburg integrieren?

Ja, wir haben eine deutsch-jüdische Synagoge aufgemacht. Am Anfang konnten wir ja alle kein Englisch, so daß wir am Anfang unter uns blieben. Es war sehr schwer. Heute ist es besser. Wir sterben aus, und die Kinder heiraten untereinander. 1938 hat Südafrika das letzte Boot mit Flüchtlingen angenommen. Trotzdem sind wir Johannesburg sehr dankbar, daß sie uns aufgenommen haben.

Waren Sie schon mal in Israel?

Ja zweimal, meine Tochter lebt dort. Israel ist schön. Man fühlt, dort ist man zuhause.

Fragen: Ulrike Fokken