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SanssouciVorschlag

■ Wo MTV Ideen klaut

Für MTV-Kids könnten diese Filme wie die Offenbarung wirken, daß „Oma“ viel revolutionärer und wilder war als sie selbst. „Vier Programme mit unnützen Filmen: Eine persönliche Anthologie zur Illustration der kurzen Form im amerikanischen Film“ zeigt derzeit das Babylon (Ost), Perlen, Schätzchen und zum Heulen schöne Kurzfilme. Ausgesucht hat diese Reihe der aus Litauen stammende New Yorker Jonas Mekas, selbst Filmemacher und Leiter der legendären „Anthology Film Archives“. Früher hätte man diese Filme wohl „Experimentalfilme“ genannt, aber seit diese Genrebezeichnung eher als Schimpfwort für Kurzfilme gilt, die irgendwie nichts geworden sind, haben offenbar auch immer weniger Leute Lust, solche feinen Filme zu machen. Das war in den 60er Jahren anders: Da wurden Celluloid-Oberflächen bemalt und zerkratzt, Filmresten und -schnipseln ein neues Eigenleben geschenkt, die besten Freunde waren natürlich die besten Darsteller, und die eigene Wohnung und unmittelbare Nachbarschaft waren die naheliegendsten Drehorte. Zu den genialsten dieser „Beet-und-Balkon“-Filme zählt Marie Menkens „Glimpse in the Garden“, ein mit der Handkamera aufgespürtes Geheimnis über das lüsterne Liebesleben der Blumen in einem abendlichen Park. Stan Brakhage hat für „Motlight“ nicht einmal eine Kamera gebraucht, sondern die Flügel toter Nachtfalter auf Blankfilm geklebt, durch den optischen Printer laufen lassen und damit diesen Tieren ein flatterndes, honigfarbenes Filmgedicht geschaffen. Die Mehrzahl dieser Filme stammt aus den 60er und 70er Jahren, aber Mekas zeigt in seiner Auswahl auch einige Vorläufer, wie etwa „Manhatta“ aus dem Jahr 1921 von Paul Strand und Charles Sheeler. Voller Begeisterung scheinen der Maler und der Fotograf die Kraft der bewegten Bilder zu entdecken, wo der Dampf aus den Schornsteinen der Ozeanriesen alles zuqualmt, Bagger optimistisch die Erde aufwühlen und der Strom der Fußgänger wie eine Naturgewalt wirkt. Neben den im Programm vertretenen bekannten „Kultfilmern“ wie Andy Warhol, Kenneth Anger und Maya Deren hätte eigentlich auch der Meister der Kompilation, Bruce Connor, ein Anrecht auf diesen Titel. „Valse triste“ ist eine melancholische Kindheitserinnerung an das Film-Traumland Kansas, die Heimat von Connor und der „Dorothy“ aus dem „Wizard of Oz“, dem Land, wo kleine Jungs gestreifte Pyjamas tragen und darin von Dieselloks und Schafen träumen. Mit sanften Ein- und Ausblenden wiegen sich die Szenen zu „I love a mystery“, der Titelmusik einer altmodischen Radiosendung vor dem TV-Zeitalter. – Diese Filme sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen, wenn man die Liste von Lieblingsfilmen lange nicht ergänzt hat und sehen möchte, aus welchem reichen Fundus clevere Videoclip-Künstler heimlich klauen. Dorothee Wenner

19.–22. 6. im Filmkunsthaus Babylon, Mitte

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