: In der Erde wühlen
■ Die niederländische Theatergruppe „Hollandia“ spielt Achternbusch in Schwerin
Alt sind sie, Fanny und Herbert. Steinalt. Der Tod rückt näher, und das wissen sie. Doch verbal sind sie voller Lebenslust, denken sich Spielereien aus und versuchen, mit ihrer Phantasie den Tod zu verscheuchen. Fanny und Herbert sind Figuren aus dem Stück „Der Stiefel und sein Socken“ von Herbert Achternbusch. Die Uraufführung an den Münchner Kammerspielen 1993 inszenierte Achternbusch selbst mit zwei alten Männern in den Rollen: Rolf Boysen und Rudolf Wessely. Ein halbes Jahr danach wurde „Der Stiefel und sein Socken“ während der Mühlheimer Theatertage zum besten deutschsprachigen Stück 1993 gewählt.
In einer verlassenen, alten Fettfabrik, weit draußen auf dem platten Polder-Land, erlebte das Stück vor einem Monat seine niederländische Premiere durch die „Theatergroep Hollandia“: ein Herbert- Clown und eine Fanny-Karikatur, gespielt von einer Schauspielerin und einem Schauspieler unter vierzig. Die Travestie – er als Frau, sie als Mann – wirkt wie ein Trick, ist es aber nicht. Es wirkt tatsächlich fremd, wie aus einer anderen Welt. Zwei uralte Menschen, wie am Ende aller Zeiten, für die die Welt nicht mehr zu bestehen scheint.
Während der Europäischen Theatertage ist „Hollandia“ in Schwerin zu sehen: eine Gruppe, die in der Erde wühlt, durch den Schlamm pflügt und zähneklappernd und durchweicht eine eindrucksvolle Vorstellung gibt.
„Hollandia“ hängt an Achternbusch: „Der Stiefel und sein Socken“ ist bereits das sechste Stück dieses bayerischen Autors, das die Gruppe in den Niederlanden herausbringt. Regisseur Johan Simons fühlt sich von dessen Derbheit und Härte angesprochen, von der Ehrlichkeit, die zeigt, was wirklich geschieht, unabhängig von jeder Moral. Schon von Beginn an, seit 1985, spielt „Hollandia“ Stücke, die auf dem Land angesiedelt sind. Bauernstücke werden sie genannt, auch wenn kein Bauer darin vorkommt. Die Stücke zeigen starke und gewöhnliche Menschen, die mit der sich schnell verändernden Welt um sich herum ringen und sich nicht an die „moderne“ Zeit anpassen wollen. „Früher war hier Ambach, jetzt herrscht hier die Welt“, sagte Achternbusch über das Dorf, in dem er wohnt. Auch den Verlust von Identität und Authentizität spricht Simons an, der selbst in einem Tausend-Seelen- Flecken an der Waal wohnt. Außer Bauernstücken gibt es auch (moderne) Klassiker im Repertoire. In der vorigen Saison spielte „Hollandia“ Aischylos' „Perser“ und eine vollständige Version von Wedekinds „Lulu“, beide nominiert für das Flämisch-Niederländische Theatertreffen im September, einem Pendant zum Berliner Theatertreffen.
Die Gruppe arbeitet und spielt auf dem Land. Aus der selbstgewählten Distanz zum städtischen Kulturbetrieb wird eine andere Sicht auf den Spielort und seine Umgebung möglich. Und so sucht und findet die Gruppe für jede neue Produktion ein neues „Theater“: eine verfallene Autoverschrottungshalle, ein gläsernes Gewächshaus oder eine alte Fettfabrik. Es sind widerborstige, kahle Orte, die in assoziativer Weise mit dem ausgewählten Text in Zusammenhang stehen, wo Spuren früheren Gebrauchs die Sinne reizen: blaue Farbreste an den Wänden, der Geruch von altem Fett und eine feuchte Kälte, die langsam in die Knochen der Schauspieler und Zuschauer zieht.
Simons gibt seinen Wunsch, Menschen ins Theater zu locken, die nie einen Fuß über die Schwelle eines Theaters setzen würden, noch nicht auf. Aber die Gruppe zieht doch vor allem Städter an, die die Stadt verlassen, auf Reisen gehen, um auf improvisierten Tribünen mit einer Pferdedecke um die Knie eine Vorstellung von „Hollandia“ zu sehen. „Ich möchte, daß Menschen sich in einer anderen Realität wiederfinden“, sagt Simons. „Ich möchte ihren Geist öffnen, in die Gehirne eindringen.“ Die Rechnung geht oft genug auf. Aus dem eigenen Alltag herauskatapultiert begibt sich der Zuschauer an einen Ort, an dem die Zeit stillzustehen scheint und die Dinge lange dauern. Simons sucht den Moment der perfekten Stille: der Bruchteil einer Sekunde, in dem der Zuschauer von seinem Stuhl gehoben wird und zu einer Einsicht kommt.
In einem leeren, kahlen Raum sitzt Herbert, gespielt von Betty Schuurman, auf einem Holzstuhl ganz nah vor dem Publikum. Er sagt nicht viel, kann nur mühsam gehen und sieht in seinem ausgeleierten, orangen Anzug und mit einem seltsamen Hut auf dem Kopf ein bißchen aus wie Becketts Estragon. Seine Frau Fanny (Peter Paul Muller), ausgestattet mit Perücke, Brille und abgetragenem Dirndl, sitzt neben ihm und redet. Während ihr aufgedunsener Körper sich vor Altersschwäche schüttelt, stolpern die Worte im Rhythmus ihres Leibes heraus. Der erweckt Abscheu, grenzt ans Groteske und wird faszinierend, wenn es den Figuren gelingt, durch die Form hindurch anzurühren und ihre gemeinsame Liebe und Verbundenheit zu zeigen. Simons sucht genau diese Reibungsfläche zwischen Kunst und Plattheit, dem Banalen und Grotesken. Während Fanny und Herbert die Zeit mit absurden Spielen totschlagen, werden zwei Mitleid erweckende Menschen sichtbar auf ihrem Weg in den Tod. Karin van Herwijnen
Übersetzung: Anne Schöfer
„Theatergroep Hollandia“ gastiert mit „Der Stiefel und sein Socken“ am 21. und 22. Juni bei den Europäischen Theatertagen in Schwerin. Vorstellungen von „Perser“ und „Lulu“ sind im September an ihren spezifischen Spielorten in den Niederlanden im September im Rahmen von Het Theaterfestival zu sehen. Informationen unter Telefon 0031-20-623 51 04.
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