: Sozialistisches Votum gegen sozialistische Reform
■ Das ungarische Parlament wählt heute einen neuen Staatpräsidenten
Budapest (taz) – Das ungarische Parlament wird heute einen neuen Staatspräsidenten wählen. Dabei wird der neue auch der alte sein: Árpád Göncz. Daß er als Kandidat der Regierungskoalition aus Sozialisten und Liberalen nominiert wurde, ist die logische Konsequenz seiner fünfjährigen Amtszeit. Nach seiner ersten Wahl im Mai 1990 wurde Göncz binnen eines halben Jahres zum populärsten Politiker Ungarns und hat diesen Platz seitdem unangefochten gehalten. Dennoch ist er alles andere als ein Populist.
Der 73jährige Göncz studierte Jura und schlug sich nach der Machtergreifung der Kommunisten als Hilfsarbeiter durch. Weil er sich an der ungarischen Revolution 1956 beteiligte, verurteilte ein Gericht ihn als „Staatsfeind“ zum Tode; das Urteil wurde später in eine lebenslängliche Gefängnisstrafe umgewandelt. Im Zuge einer Amnestie kam Göncz 1963 frei und verdiente sein Geld danach als Übersetzer und Schriftsteller. Ende der achtziger Jahre gründete er die liberale Oppositionspartei „Bund Freier Demokraten“ (SZDSZ) mit, die heute der kleinere Koalitionspartner ist.
Nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten bekam Göncz ziemlich schnell Ärger mit der damaligen national-konservativen Regierungskoalition. Nach rassistischen Überfällen auf ausländische Studenten empfing er diese in seinem Amtssitz und entschuldigte sich bei ihnen im Namen des ganzen Landes. Im sogenannten „Medienkrieg“ weigerte er sich, die Absetzung kritischer Fernseh- und Radiojournalisten zu unterschreiben. Als er Ende 1993 in der ausländischen Presse vor rechtsextremistischen Gefahren in Ungarn warnte, erklärten führende rechte Politiker den vormaligen Kompromißkandidaten zwischen Liberalen und Nationalen endgültig zum Feind.
In den Wochen vor der wahl gingen die Kontroversen um seine Person weiter. Die Oppositionsparteien „Ungarisches Demokratisches Forum“ (MDF), die „Christlich-Demokratische Volkspartei“ (KDNP) und der „Bund Junger Demokraten – Ungarische Bürgerpartei“ (Fidesz-MPP) kritisieren Göncz als zu liberal und zu wenig national. Ihr gemeinsamer, allerdings chancenloser Kandidat für das Amt, der Ex-Kulturminister Ferenc Mádl, hält Göncz vor, daß er wegen seiner Zustimmung zu den Wirtschaftsreformen mitverantwortlich für die soziale Misere im Land sei.
Dasselbe ist, in weit schärferen Tönen, von dem rechtsextremistischen Chef der Kleinlandwirte- Partei, József Torgyán, zu hören. Seine Fraktion boykottiert die Wahl; den Oppositionskollegen wirft Torgyán vor, mit der Aufstellung eines Gegenkandidaten den Anschein erweckt zu haben, es sei eine demokratische Wahl. Dabei wäre Torgyán selbst gerne Staatspräsident geworden. Er hatte im März ein Referendum darüber initiieren wollen, daß Ungarns Staatspräsident vom Volk und nicht vom Parlament gewählt wird. Dies war vom Verfassungsgericht aber mit der Begründung abgelehnt worden, ein Referendum dürfe keine versteckte Verfassungsänderung herbeiführen.
Kritik an Göncz kommt aber auch aus der Regierungspartei der Sozialisten selbst. Führende Politiker ihres nationalen und gewerkschaftlichen Flügels haben Göncz ebenfalls seine liberale Einstellung und seine Zustimmung zu den Wirtschaftsreformen vorgeworfen. Der linksnationale Sozialisten-Politiker Mátyás Szürös hofft, daß 50 bis 70 sozialistische Abgeordnete gegen Göncz stimmen. Die Wahl des Präsidenten soll für einen Teil der Sozialisten so zur Abstimmung über die Reformpolitik der Regierung werden. Obwohl die Koalition eigentlich über die Zweidrittelmehrheit verfügt, um Göncz bereits in einem der ersten beiden Wahlgänge zu wählen, könnte so ein dritter Wahlgang notwendig werden. Dann aber genügt die einfache Mehrheit. Keno Verseck
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