: Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt ... Von Mathias Bröckers
Was für den Kanzler „blühende Landschaften“, für den Ökonomen „Konjunkturaufschwung“ und für den Aktien-Broker „bullish“ ist, nennt der Gewerkschafter „Arbeitsplatzsicherung“, der Angestellte „Gehaltserhöhung“, und der Hilfsarbeiter „ein bißchen mehr Trinkgeld“. Sie alle reden vom Wohlstand, doch was Wohlstand bedeutet, ist zunehmend unklar. Bedeutet Wohlstand mehr Arbeitsplätze oder weniger? Mehr Freizeit oder weniger? Mehr Einkommen für wenige oder eher gleiches Einkommen für alle? Mehr Konsumgüter oder mehr Dienstleistungen? Mehr Arbeitsplatzgarantie im Kohlebergbau? Mehr Umweltschutz? Ein intaktes Sozialsystem? Oder mehr individuelle Freiheit? Abbau globaler Handelshemmnisse oder Aufbau regionaler Kreislaufwirtschaften? Höhere Bildung oder mehr Entertainment? Mehr Kinder oder weniger? Oder hat Wohlstand gar nichts zu tun mit „mehr“ oder „weniger“? Je komplexer ein Problem wird, desto stärker der Hang zu vertrauten, einfachen Antworten. Regierungen und Politiker haben deshalb auf die schwierige Frage nach dem Wohlstand meist eine ganz simple Antwort: Das Bruttosozialprodukt (BSP), so behaupten sie, sei die Skala, anhand derer An- oder Abwesenheit von Wohlstand meßbar sei. Und sie führen auf farbigen Computergraphiken in bestechenden Kurven vor, wie sich das BSP entwickelt. Ganze Abteilungen haben nichts anderes zu tun, als über diesen Statistiken zu brüten, und Finanz-Gurus „lesen“ sie wie Wahrsager die Handlinien. Aber können sie auf die Frage nach dem Wohlstand wirklich Auskunft geben? Eine asbestverseuchte Schule muß saniert werden – ihr Bau ging vor Jahren in das BSP ein, so wie jetzt die Kosten der Sanierung; eine Stahlbetonbrücke wird ausgebessert, was für 5.000 Benutzer täglich zehn Kilometer Umweg bedeutet – sowohl die Kosten der Reparatur als auch die Mehrkosten der Benutzer zählen zum Bruttosozialprodukt; ein Land wie Japan produziert täglich 160.000 Tonnen Haushaltsmüll, dessen Entsorgung ebenso in das BSP eingeht wie die Güter, die es einst repräsentierte; neue Gefängnisse werden errichtet, um der Gewalt in den Armutsvierteln Herr zu werden – das BSP steigt; das Ozonloch intensiviert die UV-Strahlung, der Verkauf von Sonnencremes boomt, und wir steigern das Bruttosozialprodukt. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren, was jedoch Regierungen und Wirtschaftsexperten nicht davon abhält, am BSP als Maßstab und Wegweiser zum Wohlstand festzuhalten. Der Weltbank-Ökonom Herman Daly hat in einem ketzerischen Buch („Stady-State Economics“) das BSP mit einem übergewichtigen Menschen verglichen, der unter Verstopfung leidet. Er hört nicht auf, alles zu essen, Bekömmliches und Unbekömmliches, er wird dicker und kränker und kommt nicht dahinter, woran das liegt. Das BSP, so Daly, „ist der vergoldete Index unseres weitreichenden Ruins“. Wenn also die sieben größten Industrienationen bei ihrem jüngsten Treffen bekunden: „Wir fühlen uns nach wie vor durch das anhaltende Wachstum in weiten Teilen der Weltwirtschaft ermutigt“, besteht kein Anlaß, ermutigt zu sein. Der fette, kranke Organismus wird weiter gestopft – und absurde Statistiken behaupten, er sei fit, gesund und auf dem Weg zu dauerndem Wohlstand.
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