■ Mit Nord- und Ostsee auf du und du: Moltke war dagegen
Rendsburg (taz) – Sozialdemokraten und Anarchisten durften ebensowenig mitarbeiten wie Tuberkulöse und Träger anderer „ansteckender und ekelerregender“ Krankheiten. Trotzdem kamen genug Männer zusammen, um heute vor 100 Jahren mit dem Großprojekt fertig zu werden: dem Kaiser-Wilhelm-Kanal quer durch Schleswig-Holstein. Inzwischen heißt das Kunstgewässer längst Nord-Ostsee-Kanal, international Kiel-Canal.
Ohne die künstliche Wasserstraße hätte die Landeshauptstadt das wirtschaftspolitische Gewicht Emdens, wäre Brunsbüttel ein Weiler mit (Atom-)Meiler und Rendsburg ein großes Bauerndorf mit Garnison. Und nur durch den Kanal kam Rendsburg zu einem Hafen für Seeschiffe und zu Werften.
Der Nord-Ostsee-Kanal ist 99 Kilometer lang und erspart den Schiffen den – einst gefährlichen und immer noch zeitraubenden – Umweg durch die Meerenge zwischen Norwegen und Dänemark, das Skagerrak. Er ist die meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Welt und stellt mit 44.000 Passagen pro Jahr (1994) Panama- und Suezkanal in den Schatten. Das kommt die Bundesrepublik teuer. 1994 wurden nur 37 Millionen der 170 Millionen Mark teuren Kanalunterhaltung durch Gebühren gedeckt.
Ursprünglich spielte die Handelsschiffahrt nur eine Nebenrolle. Kaiser Wilhelm I. wollte die deutsche Kriegsflotte in Nord- und Ostsee gleichermaßen schnell verfügbar haben. Fast wäre nichts daraus geworden, denn des Kaisers greiser Generalfeldmarschall Helmuth Graf Moltke war ein entschiedener Gegner des Projekts – und der Monarch hörte auf ihn. Moltke hätte lieber eine zweite Flotte gebaut. Reichskanzler Otto von Bismarck mußte reichlich rackern, bis der Regent 1886 erließ: „Wir, Wilhelm von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen, verordnen, daß ein für die deutsche Kriegsflotte geeigneter Schiffahrtskanal von der Elbmündung über Rendsburg nach der Kieler Bucht hergestellt werde.“
Der alte Kaiser und sein Feldmarschall erlebten die Einweihung nicht mehr. Es war Wilhelm II., der am 20. Juni 1895 auf der Yacht „Hohenzollern“ den Kanal eröffnete. Und es war angeblich Bismarck, der seinem Kontrahenten Moltke posthum eine ehrenvolle Bösartigkeit verpaßte. Auf einem Hügel auf halber Strecke steht der Moltke-Stein. Den hätte der Alte für seine ungewollten und erfolglosen Bemühungen um den Landschaftsschutz verdient.
Bis Rendsburg fließt der Kanal in der verbreiterten Eider, danach im eigenen Bett. Die Eider wurde durchtrennt. Folge: Seit 100 Jahren ist Schleswig- Holsteins größter Fluß ein stehendes Gewässer. Jürgen Oetting
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