■ Wühltisch
: Der Aktenkoffer

Ein mehrstündiger Aufenthalt auf dem Amsterdamer Flughafen Schiphol lieferte kürzlich neue Indizien für meinen Verdacht, daß die „Zivilisation der Arbeitslosigkeit“ (Claus Koch) nach wie vor starken Bedarf an Zeichen der Berufstätigkeit hat. Der Variantenreichtum im Bereich Handgepäck ist enorm, aber es ist eine deutliche Präferenz für Aktenkoffer festzustellen. Kaum anzunehmen, daß alle Träger von Aktenkoffern beruflich unterwegs sind. Manchen baumelt das Ding so locker am Handgelenk, als gelte es gerade seine Leere zu demonstrieren. Es gibt äußerst schmale Modelle aus Alu oder ähnlichem Material, in die nur ein paar dünne Mäppchen hineinpassen. Äußere Glätte, hat uns Roland Barthes gelehrt, ist ein Hinweis auf göttliche Reinheit und Perfektion.

Wo Rucksäcke und Taschen durch Aufsätze und Reißverschlüsse Multifunktionalität andeuten, besticht der Aktenkoffer durch seine formale Beschränktheit. Neueste Hartplastikmodelle von Samsonite oder Delsey wirken denn auch wie aus einem Guß. Die Verschlüsse muß man suchen, und die Griffe sind scheinbar ansatzlos eingepaßt. Daß sie dennoch beweglich sind, nimmt man erst beim Tragen wahr. Tatsächlich fordern sie zur Berührung heraus.

Das Wirtschaftsleben, wo wir die meisten Aktenkoffer vermuten, scheint sich Bedeutung durch zunehmende Verflüchtigung des Materiellen geben zu wollen. Wer hier auf dem Flughafen schwere Taschen und Koffer sowie unhandliche Tüten von Gaultier und Max Mara schleppt, gibt sich als Tourist zu erkennen, der sich die Wartezeit mit Duty-free-Wandeln vertreibt. Im Vergleich zum Umhertragen leichter Köfferchen sieht sein Treiben tatsächlich nach Arbeit aus. Das Leid aller Distinktionskämpfer ist es nun einmal, daß die Massen sich die Zeichen des Luxus immer schneller anzueignen verstehen. Ein Bummel im kollektiven Freizeitpark wäre demnach vor allem Ausdruck des Ungeschicks.

Sosehr der Aktenkoffer den Arbeitsvorgang zu verbergen sucht, besteht er doch auf einem unauslöschbaren Rest. Was wirklich drin ist – Betriebsbilanzen, Notebook, Vortragsmanuskript oder Gameboy – bleibt Spekulation. Sein hervorstechendstes Merkmal ist seine Nichteinsehbarkeit. Während der Arztkoffer – leicht zerschlissen und mit Stockflecken gern von Medizinstudenten als Hinweis auf künftiges Tun benutzt – durch seine wulstige Form die verschiedenen Diagnoseinstrumente erahnen läßt, verweigert der Aktenkoffer jede Auskunft bezüglich des Inhalts. Das wird bekräftigt durch das Prinzip Geheimnummer, wobei es weniger um das tatsächliche Verbergen als um den wundersamen Vorgang der Ausschließbarkeit geht.

Es ist übrigens ratsam, keine Nummer einzugeben. Durch die Vielzahl der Geheimnummern, die man im täglichen Leben so braucht, kann es leicht passieren, daß man die Koffernummer nach längerer Gebrauchspause vergißt. Bei einem, zugegeben eher billigen, Modell ist es mir einmal passiert, daß sich das Schloß trotz vorhandener Nummer – in weiser Voraussicht hatte ich 1, 1, 1 gewählt – nicht mehr öffnen ließ.

Den wahren Kofferträger erkennt man natürlich am Klassiker. Er stammt von Swaine & Adeny und ist aus schwerem, glattem Sattelleder, die Ecken sind durch aufgenähte Kappen aus demselben Material verstärkt. Der Griff, auf der Oberseite doppelt genäht, liefert einen deutlichen Hinweis, daß das edle Stück handgefertigt ist. Die gut zweieinhalbtausend Mark teure Luxusausführung zeichnet sich durch schwere, handgeschmiedete Messingschlösser aus. Das Innenfutter ist aus hochwertiger Baumwolle.

Wer im Geschäftsleben allerdings wirklich auf sich hält, trägt freilich gar keine Aktenkoffer, sondern sehr viel geräumigere Pilotenkoffer, in die dann auch schon einmal mehrere Leitz- Ordner hineinpassen. Piloten, das hat meine Studie in Schiphol ergeben, benutzen diese indes nicht. Harry Nutt