: Des Menschen Recht
Obwohl beide in ihrer Entstehung eng verbunden sind, ist das Völkerrecht zum Hemmnis der Entfaltung der Menschenrechte geworden ■ Von Horst Kurnitzky
Es scheint, daß die Schutzmechanismen, die die Gesellschaft vor einem Rückfall in die Barbarei bewahren sollen, für Ausfälle und Übergriffe auf wehrlose Menschen zunehmend durchlässiger werden. Und das nicht nur in Gesellschaften, die – blickt man auf die jüngste Geschichte – zu unbeschreiblichen Greueltaten fähig waren. Jedes Jahr legt amnesty international einen Bericht vor, der bestätigt, daß es weltweit wieder schlechter steht um die Menschenrechte. Oft werden sie nicht einmal mehr formal anerkannt, obgleich sich die meisten Staaten durch ihre Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen verpflichtet haben, die Würde des Menschen zu respektieren und den Menschenrechten Geltung zu verschaffen. Trotzdem werden immer wieder Menschen rechtlos gemacht, in Lager und Gefängnisse geworfen, gefoltert, hingemordet oder zu Tausenden einfach wie Vieh abgeschlachtet. Die Rechtfertigung einer derartigen Barbarei durch vermeintlich höherstehende Rechtsgüter wie Volk, Nation oder Religion weist auf ein Syndrom, das bislang die globale Anerkennung der Menschenrechte behindert hat.
Wie ist es möglich, daß ein universelles Rechtsgut in solchem Maße entwertet und auf den Müll geworfen wird, während die Staaten ein anderes, aber damit historisch verbundenes Recht, nämlich das Völkerrecht, das in seinem Kern die Souveränität der Nationen garantiert, in der Regel respektieren? Und das nicht nur wegen der Armeen, die Nationen zu Festungen machen. Auch da, wo eine vergleichsweise risikolose Intervention im Namen der Demokratie und Menschenrechte möglich gewesen wäre, wie zu Zeiten des Bürgerkriegs in Spanien, ist sie aus Gründen des Völkerrechts unterblieben, wenn man von den Brigaden der Freiwilligen einmal absieht. Vor allem wäre den Menschen in Europa viel Leid erspart geblieben, wenn die letzten Demokratien Nazi-Deutschland lange vor Ausbruch des Krieges in die Schranken gewiesen hätten, von dem Schaden, den die Reste der Menschlichkeit durch dies Versäumnis erlitten haben, gar nicht zu reden. Doch das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Menschenrechte, sind sie erst einmal vom Wohlwollen einer Völkergemeinschaft abhängig, auf einer fragilen, wenn nicht fragwürdigen Basis ruhen.
Offenbar stehen die Idee der Menschenrechte und der Grundsatz des Völkerrechts, wiewohl historisch miteinander verbunden und oft in verwirrender Weise in einem Atemzug genannt, wenn zum Beispiel von den Menschenrechten eines Volkes die Rede ist, doch in einem Widerspruch, der zeigt, daß den Begriffen vermutlich eine unterschiedliche Vorstellung von der Gesellschaft und vor allem eine unterschiedliche Idee vom gesellschaftlichen Zusammenleben der Individuen zugrunde liegt.
Im Unterschied zum Prinzip der Menschenrechte, das auf der Demokratie aufbaut und die Individuen als die eigentlichen Subjekte der Gesellschaft anerkannt, sind für das Völkerrecht die Völker die Subjekte. Sie sind es, die Kriege führen oder Frieden schließen, egal ob die beteiligten Nationen die Menschenrechte respektieren oder nicht. Indem das Völkerrecht die Völker und nicht die Menschen zu Subjekten macht, begünstigt es oft Diktaturen und die damit verbundene Unterdrückung der Menschenrechte. Schon um sich jede Intervention vom Halse zu halten, müssen despotische Regime auf dem Völkerrecht und der Souveränität der Nation bestehen. Sie werden das Völkerrecht verteidigen, um die Menschenrechte mit Füßen treten zu können.
Dagegen steht der Universalismus der Menschenrechte, der den Rahmen der Nation tendenziell sprengt. Daß aber die politische Formulierung der Menschenrechte auf nationale Revolutionen oder Unabhängigkeitsbewegungen zurückgeht – die englische „Bill of Rights“ von 1689, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Französische Revolution von 1789, die schließlich zur Kodifizierung der Menschenrechte geführt hat –, weist auf eine unglückliche Verbindung, sozusagen einen Geburtsfehler, der die Menschenrechte und das Völkerrecht wie siamesische Zwillinge miteinander verbunden hat und der Respektierung der Menschenrechte bis heute im Wege steht. Ein Blick auf die sogenannten Befreiungskriege zu Beginn des vorigen Jahrhunderts zeigt, wie diese Kriege wohl die Völker Europas von napoleonischer Usurpation befreit, nicht aber die individuelle Freiheit der Menschen befördert haben.
Im Gegenteil: Es war der „Codex Napoleon“ in dem die „Droits de l'homme“ als einklagbare Rechte der Individuen verankert waren, Menschenrechte, die diesseits des Rheins noch keine Gültigkeit haben sollten. Die Freiheit, die hier erstritten wurde, war nicht die Freiheit des Individuums in einer zivilen Gesellschaft, sondern die Freiheit eines ganz anderen Subjektes: des Volks. Das wirkt bis heute nach. Die Dumpfheit, mit der dem Universalismus der Menschenrechte immer häufiger eine Absage erteilt wird, hat nicht selten ihre Wurzeln im romantischen Nationalismus, an dem sich immer wieder ganze Völker bis zur Bewußtlosigkeit berauschen.
Immanuel Kant hat wenige Jahre vor der Französischen Revolution, in seiner berühmten „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ von 1785, die Freiheit und Gleichheit der Individuen, also die Menschenrechte, in seinem allbekannten Imperativ so formuliert: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum ,allgemeinen Naturgesetz‘ werden sollte.“ Und damit ist gerade nicht die soziale Wildnis gemeint, die neoliberale „opinion leader“ anstreben. Sie brauchte nicht erst durch bewußtes Handeln und Gesetze durchgesetzt zu werden, wie die neuen wirtschaftlichen Experimentierfelder in Osteuropa beweisen. Im Gegenteil, Kant hat versucht, individuelle Freiheit und Menschenwürde so zu fassen, daß die Freiheit jedes Individuums durch die Freiheit jedes anderen Individuums begrenzt wird. Zugleich sollte diese Maxime gesellschaftlicher Verkehrsformen zum gesellschaftlichen Naturgesetz erhoben werden. Die ehemals vor Gott gleichen und seinem Gesetz unterworfenen Individuen sollen so zu bewußten und gleichberechtigten Menschen werden, die die Gesetze ihrer Verkehrsformen selbst bestimmen.
Längst befinden wir uns in einer bürgerlichen Gesellschaft, in der sich die Individuen als Eigentümer gegenübertreten. Alle Formulierungen der Menschenrechte, auf die wir uns bis heute beziehen, stammen aus dieser Zeit: Sie entsprangen der Idee von einer demokratisch organisierten Gesellschaft, in der sich freie Individuen als Käufer und Verkäufer auf dem Markt gegenübertreten und ihre Interessen in Verträgen frei aushandeln. Ein Grund, weshalb sich vor allem Liberale immer für die Menschenrechte eingesetzt haben, allerdings nur, wenn sie ihren geschäftlichen Interessen nicht im Wege standen.
Die Verknüpfung der Menschenrechte mit dem Handel und dem Markt, wo Eigentümer, durch Verträge vermittelt, ihre Interessen austauschen, läßt eine dem Handel innewohnende Ambivalenz auch auf die Menschenrechte einwirken. Einerseits reißt der Handel tendenziell alle Schranken nieder, verbindet und verbündet Menschen und hilft ihnen, ihre Wünsche zu befriedigen und sich als Menschen zu realisieren. Das hat sich expressis verbis in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und später in der Verfassung der USA niedergeschlagen, wo „the pursuit of happiness“, also das Streben nach Glück, zum allgemeinen Recht erklärt, den Menschenrechten zu einer ökonomischen Basis verhalf. Ist der Markt aber andererseits nicht einer gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen und begrenzt ein Imperativ nicht das Streben des einzelnen, so führt das Recht zur Bereicherung zu ökonomischer Abhängigkeit von Menschen und hebt die durch die gleiche Maxime garantierten Menschenrechte wieder auf.
Die Aufgabe des Staates, den Markt zu kontrollieren, Rahmenbedingungen zu setzen und die Konzentration ökonomischer Macht zu unterbinden, erstreckt sich auch auf die Lebensgrundlage der Individuen. Die Wahrung der Menschenrechte schließt die ökonomischen Lebensrechte der Individuen ein. Garantiert ein Staat seinen Bürgern nicht auch die ökonomische Lebensgrundlage und setzt er sich nicht für eine gerechte Verteilung der Ressourcen ein, verliert er seine Legitimation als demokratischer Staat. Die fehlende Verknüpfung der Menschenrechte mit ökonomischen Rechten hatte Hermann Broch 1940 zu dem Vorschlag veranlaßt, die Menschenrechte durch eine „Bill of Economic Rights“ zu erweitern. Denn persönliche Freiheit bedeutet immer zugleich auch die Freiheit, wirtschaftlich überleben zu können. In letzter Konsequenz erfordert die Garantie und Verteidigung der Menschenrechte einen demokratisch kontrollierten Markt, durch den auch die ökonomische Freiheit eines jeden Individuums durch die Freiheit jedes anderen begrenzt wird.
Das normative Recht, das die Freiheit und die Menschenwürde auch des Schwachen garantiert, folgt keinem Naturgesetz, ist aber ein zivilisierendes Recht, das gesellschaftliches Naturrecht werden könnte, wenn es gelänge, Rückfälle in die Barbarei der absoluten Herrschaft eines als Naturgesetz vorgetäuschten Pseudorechts von Blut, Rasse oder Volk zu verhindern. Natürlich betrifft das auch durch Religionen gestiftete spirituelle Blutsbande. „Es geht“, wie Hermann Broch sagt, „um eine ,Totalisierung‘ der Demokratie, und weil das Totalitäre im strafgesetzlichen Schutz der normativen Leitlinien besteht, wäre dieser auf die demokratischen Leitlinien anzuwenden. Mit anderen Worten, der Bürger wäre zu verpflichten, die ,Menschenrechte‘ des Nebenbürgers als so absolut zu betrachten, wie sie sind, und sie nie und nirgends, also auch nicht im Alltagsleben anzutasten.“ Um die Achtung dieses normativen Rechtes zu garantieren, schlägt er vor, daß alle demokratischen Staaten ein Gesetz in ihre Verfassung aufnehmen sollten, das den Schutz der Menschenwürde durch Strafandrohung garantiert.
Erwartungsgemäß ist ein solches Gesetz nicht durchsetzbar, wenn die Völker es nicht wollen, und überdies ist es nach all den Erfahrungen, mit Strafandrohungen emotionale Verhaltensmuster zu beeinflussen, sehr fragwürdig, ob eine Gesellschaft durch ein Gesetz überhaupt humanisiert werden kann. Im Gegenteil, die Strafandrohung selbst ist es ja, die in letzter Konsequenz immer eine Todesstrafe meint, so wie jede Verletzung der Menschenrechte auch. Das aber hieße, unversöhnter, nicht zivilisierter Natur, also der Barbarei in der Gesellschaft, wieder Platz einzuräumen. Dem Strafrecht des Staates haftet qua Strafrecht noch die Inhumanität der Natur an.
Strebt man eine humane Gesellschaft an, ist nicht der Staat der Souverän, sondern das Individuum. Es allein repräsentiert die Gattung, alle Menschen, was man von den Völkern nicht behaupten kann. Denn der Universalismus der Menschenrechte übersteigt jede nationale Souveränität und verbietet in letzter Konsequenz auch die Intervention von Staatengemeinschaften in andere Staaten, auch wenn sie zum Schutz der Menschenrechte unternommen werden sollte. Und das nicht wegen der Verletzung des Völkerrechts, das den Menschenrechten ohnehin nachgeordnet ist, sondern weil Staaten, wie jede Gemeinschaft, mit ihren Fundamenten bis in die Vorgeschichte reichen und immer noch jene Wildnis und Barbarei verkörpern, die die Menschen ständig bedrohen.
Obwohl in der Moderne formuliert, geht das Völkerrecht im Grunde auf eine weit ältere Form der Gesellschaftsbildung zurück als das Menschenrecht: auf eine Gentilverfassung der Gesellschaft, die, durch Blutsbande und Inzesttabu nach innen und außen befestigt, den ökonomischen Zusammenhalt der Stammesgesellschaft garantiert. Ein Individuum, verbunden mit der Vorstellung individuellen Glücks, war diesen Gesellschaften ebenso unbekannt, wie es das Völkerrecht nicht vorsieht. Die Nation aber ist, wie das Volk, eine romantische Erfindung, die im Nebel der jüngeren Geschichte an die Stelle des rationalen Staates gesetzt wurde, um das Individuum vor der Entfremdung in der „Wildnis“ moderner Gesellschaften zu retten. Von Dichtern und Dramatikern heute wiederbelebt, um dem Bedürfnis nach Lebenssinn ein Ziel und ein Identifikationsobjekt zu bieten, ist das Nationalbewußtsein die letzte Droge, an die sich zu klammern das irritierte Individuum sich entschlossen hat. Wird ein gesellschaftliches Gebilde wie Volk oder Nation jedoch zur natürlichen Lebensgrundlage der Individuen stilisiert, so tritt eine ominöse Gemeinschaft an die Stelle einer rationalen Gesellschaft (die allein in der Lage wäre, Menschenrechte zu schützen) oder, wie Hannah Arendt sagt, der „souveräne Volkswille“ wird zu jenem absoluten Subjekt, dem zuerst die Menschenrechte und später die Menschen selbst geopfert werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen