: Irrfahrt nach Tschetschenien
■ Julia Kalinina, Journalistin der russischen Tageszeitung „Moskowski Komsomoljez“, berichtet aus einem der Geiselbusse
Chassawjurt (taz) – Budjonnowsk, am Montag, vier Uhr nachmittags. Die Kolonne aus sieben Autobussen bricht endlich auf. Die Einwohner der Stadt, denen die erlittenen Demütigungen und die Trauer um verlorene Angehörige noch anzumerken ist, umringen die Busse. Eine Hundertschaft schwer bewaffneter Rambos, 140 Geiseln, der Bürgermeister von Budjonnowsk und mehrere Abgesandte der Staatsduma schicken sich an, durch Rußland zu kurven.
Schon zwei Stunden nach der Abfahrt haben die Ikarus-Busse und das Kühlfahrzeug mit den Leichen die erste Panne. Die gesamte Kolonne bleibt liegen und alle mühen sich ab, die ausgedienten Verkehrsmittel wieder in Gang zu bringen. Ständig kreisen Hubschrauber über den Bussen. Die Propellergeräusche provozieren die Tschetschenen. Als um sieben Uhr abends ein Hubschrauber landet, legen die Geiselnehmer sofort die Gewehre an. Dann folgt die Entwarnung: Der Hubschrauber liefert lediglich einen Brief an den Rebellenführer Schamil Bassajew ab, in dem Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin ihn auffordert, die geplante Route in die südtschetschenische Ortschaft Wedeno zu ändern. Die Osseten verweigern den Terroristen die Durchfahrt. Nun sollen die Busse über Dagestan nach Sandak fahren. Unschlüssig irrt die Kolonne noch eine Weile durch den Großbezirk Stawropol, bis sie sich Richtung Dagestan in Bewegung setzt.
Nach Anbruch der Nacht werden die Hubschrauber von Flugzeugen abgelöst, die Leuchtraketen abschießen. Die neue Route ist zehn Stunden länger als der ursprünglich geplante Weg. Im Schneckentempo erreichen die Busse schließlich bei Chassawjurt die tschetschenische Grenze. Der Empfang, der die Fahrzeuge mit dem grünen Banner der Republik Tschetschenien hier erwartet, unterscheidet sich gründlich von dem Abschied in Budjonnowsk. Frauen brechen in Freudentränen aus, Männer salutieren mit geballten Fäusten. Zehntausend Menschen haben sich auf dem Hauptplatz versammelt, um die „Helden der Nation“ zu begrüßen.
Ein Uhr mittags. In Chassawjurt stehen die Busse bereits einige Stunden. Bassajew versucht, sich mit Tschernomyrdin über eine weitere Änderung der Route zu einigen. Die Strecke nach Sandak ist weder mit Bussen, noch mit Autos passierbar. Nur mit Traktoren oder Eseln wäre dies möglich, sagen die hiesigen Milizionäre. Ein Eselsritt scheint Bassajew nicht verlockend. Außerdem verlangt er Sicherheitsgarantien, da der Weg ungeachtet der erklärten Einstellung der Kampfhandlungen weiterhin von den russischen Streitkräften beschossen wird.
Die Gefangenen in den Bussen nutzen die Zwangspause, um zu essen und ein wenig zu schlafen. Die Atmosphäre ist geradezu freundschaftlich: Freischärler und Geiseln sitzen nebeneinander und unterhalten sich. Unter den Geiseln befinden sich höchstens fünf Frauen. Alle sind übermüdet und wollen sobald wie möglich nach Hause. Der begeisterte Empfang, den man den Kämpfern hier bereitete, machte die Geiseln nicht etwa verlegen, sie freuten sich sogar mit. In diesem Moment glauben sie, daß der Krieg, den weder Russen noch Tschetschenen wollen, schon zu Ende ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen