Aristide macht reinen Tisch

Bei den morgigen Wahlen will Haitis wiedereingesetzter Präsident seiner Basisbewegung eine satte parlamentarische Mehrheit verschaffen  ■ Aus Port-au-Prince Ralf Leonhard

Wer heute Haiti besucht, würde nicht glauben, daß Wahlen bevorstehen. Das turbulente Alltagstreiben auf den Straßen der Hauptstadt wird kaum von Büttenreden unterbrochen. Gemessen an vergleichbaren Ereignissen anderswo in Lateinamerika ist die Anzahl der Plakate, die die Mauern verunzieren, bescheiden; es gibt nur einige blasse Poster in der Größe von Flugblättern. Wahlkampf findet vor allem im Radio statt: Mit afrikanischer Trommelmusik unterlegt, unterbrechen immer wieder Werbespots die Sendungen. Dabei erklärt dann eine Stimme in hochoffiziellem Tonfall, es handele sich um eine bezahlte Einschaltung im Auftrag einer politischen Organisation.

Die Haitianer, die eigentlich gerne über Politik diskutieren, lassen sich kaum zu Stellungnahmen über die morgigen Legislativ- und Kommunalwahlen hinreißen. Nur wenn am wolkenlosen Himmel von Port-au-Prince die Piper-Maschine mit dem Spruchband: „Randevou bo tabla“ auftaucht, halten die Leute an und brechen in Applaus aus. Und vor dem strengbewachten Palais National, wo Präsident Aristide regiert, kommt es gelegentlich zu spontanen Kundgebungen für den Staatschef. Einer der Jubler, der am Gitter von den Sicherheitsagenten gestoppt wird, drückt den Grund so aus: „Zuerst kommt der liebe Gott, dann Aristide und schließlich Tabla.“

Früher war Aristide „viel aufrührerischer“

Tabla – „der Tisch“ – ist eine Allianz von drei Gruppierungen, in der die „Politische Organisation Lavalas“ (OPL) federführend ist. „Lavalas“ – der Erdrutsch – war die Parole, mit der der Priester Aristide bei den Wahlen von 1990 die Volksbewegungen und unorganisierten Armen gleichermaßen für seinen Erdrutschsieg mobilisieren konnten, von dem sich Haitis Oligarchie bis heute nicht erholt hat. Jetzt versucht die OPL, die erst während der letzten Monate der Militärdiktatur gegründet wurde, dieses Ereignis zu wiederholen. Sie verfügt weder über nennenswerte Führerfiguren noch über ein Regierungsprogramm. Ihr Programm heißt Aristide. Und Aristide, der ungebrochen populäre Messias des haitianischen Volkes, hat sich unerwartet deutlich für Lavalas und Tabla ausgesprochen. Bei einem Auftritt in Gonaives am vergangenen Montag, dem praktisch die gesamte Stadtbevölkerung beiwohnte, rief er zum Votum für diese Allianz auf und fügte staatsmännisch hinzu, daß jeder das Recht habe, auch andere Parteien zu wählen, und dieses Recht zu respektieren sei.

Aristide versteht es noch immer, seine Ansprachen in der Landessprache Criole zu einem Zwiegespräch mit den Massen zu machen. Doch zwischen den Sprechchören in Gonaives und den Begeisterungsstürmen während der Wahlveranstaltungen im Dezember 1990 liegen Welten, die nicht nur durch die staatsmännische Erfahrung des ehemaligen Salesianerpaters zu erklären sind, sondern vor allem durch die drei Jahre des Exils während des im vergangenen Herbst von US-Truppen schließlich von der Insel vertriebenen Putschregimes. „Aristide ist geläutert“, erklärt Paul St. Hilaire, Vizerektor der privaten Quisqueya-Universität. „Früher hat er viel aufrührerischer gesprochen“.

Der 41jährige Staatschef vergißt nicht, daß er es der US-Regierung verdankt, daß er seinen napoleonischen Thronsessel wieder besteigen durfte, und sein Volk nimmt es ihm offensichtlich nicht übel. Girard Pierre-Charles, einer der bedeutendsten Intellektuellen des Landes und OPL-Mastermind, sieht die Wahlen als historischen Abschluß eines Zyklus, der 1986 mit der Vetreibung des „Präsidenten auf Lebenszeit“, Jean-Claude Duvalier, begann.

Daß die Anhänger der einstigen Duvalier-Diktatur sich über die Urnen zurückmelden können, ist wenig wahrscheinlich. Doch der gezielte Terror vor den Wahlen läßt Schlimmes befürchten. In den letzten Monaten sind zahlreiche Aspiranten auf politische Posten eingeschüchtert oder erschossen worden. Zuletzt wurde am Montag ein Attentat auf einen Kandidaten aus Leogane, südwestlich von Port-au-Prince, verübt. Die Lage ist so brenzlig, daß Erik Falt, der Chef der UNO-Mission auf Haiti, vor ein paar Tagen erklärte, er könne die Sicherheit der Wahlen nicht garantieren.

Die morgigen Wahlen sind die ersten seit 1990. Der gesamte Kongreß mit seinen 83 Sitzen, zwei Drittel des 27köpfigen Senats, 132 Bürgermeister und 565 ländliche Gemeindevertretungen müssen erneuert werden. Fast alle antretenden Parteien und Bürgerkomitees sind weitgehend unbekannte Neugründungen, hinter denen sich die Überreste der gefürchteten Duvalier-Schlägermiliz „Tontons Macoutes“ und die Anhänger der Militärdiktatur verbergen, darunter die „Pakapala“ des ehemaligen Macoute-Chefs Franck Romain, gegen den ein Haftbefehl vorliegt.

Die einzige Kraft, der es zuzutrauen ist, der Wucht der Tabla standzuhalten, ist die „Nationale Front für den Wandel und die Demokratie“ (FNCD), ein Bündnis von Volksorganisationen, das vor fünf Jahren dem in letzter Minute aufgestellten Aristide als Vehikel diente. Die von Evans Paul, dem smarten Bürgermeister von Port- au-Prince, angeführte Organisation hat allerdings viel an Prestige verloren, seit einige ihrer Parlamentarier im Jahre 1991 auf Obstruktionskurs gegen Aristide gingen und damit den Weg für den Staatsstreich bereiteten.

Evans Paul, ein ehemaliger Journalist von unbestreitbarer persönlicher Integrität, war lange im Gespräch als möglicher Nachfolger von Aristide. Während der dreijährigen Diktatur hielt er im Untergrund die Stellung und entging Attentaten mehrmals nur knapp. Sowohl die Volksbewegungen als auch die USA betrachteten ihn als präsidiabel. Doch beide sind inzwischen von ihm abgerückt. „Sie haben gemerkt, daß sie ihn nicht manipulieren können“, glaubt eine einflußreiche politische Aktivistin, „deswegen wollen sie ihn zerstören.“

Viele glauben, daß Paul morgen nicht einmal seinen Bürgermeisterposten verteidigen kann. Denn Lavalas unterstützt Joseph Emmanuel Charlemagne, einen wirren, aber populären Sänger. Seine Anhänger beschuldigen Bürgermeister Paul, ausländische Gelder für die Stadtsanierung unterschlagen zu haben.

Für Paul wiederum ist Lavalas nichts weiter als „ein Haufen von Opportunisten, die sich des Staatsapparats zu persönlichen Zwecken bedienen“. Dieses Urteil mag auf einzelne Funktionäre zutreffen, geht aber am wirklichen Charakter der Organisation vorbei. Professor St. Hilaire, Sympathisant der Linken, unterstreicht den revolutionären Gehalt der Bewegung: „1990 hatte erstmals die Bevölkerung etwas zu sagen. Das ist auch der Grund, warum das Volk nach dem Staatsstreich seine Stimme erhob und damit verhinderte, daß sich das Putschregime konsolidieren konnte.“ Die Kandidaten von Lavalas sind mehrheitlich junge Leute aus dem Volk, die noch nicht vom Virus der Korruption angesteckt sind.

Demokratische Wahlen sind immer noch ein Novum für die ehemalige französische Kolonie, die nach einem Sklavenaufstand 1804 – 28 Jahre nach der Unabhängigkeit der USA – zur zweiten freien Republik Amerikas wurde. Anders als 1990, als die Vereinten Nationen die Präsidentenwahlen von Anfang bis Ende organisierten, ist diesmal ein nationaler „Provisorischer Wahlrat“ (CEP) ohne Erfahrung zuständig. Die UNO versucht lediglich, mit 400 Beobachtern die Veranstaltung mit Glaubwürdigkeit auszustatten.

Eine Million Wahlkarten sind spurlos verschwunden

Trotz der 16 Millionen Dollar, die die USA, die Europäische Union und die UNO in den Prozeß gesteckt haben, ist Chaos unausweichlich, denn der Wahlrat beweist Tag für Tag seine Inkompetenz. Aus seinen offiziellen Unterlagen geht nicht einmal eindeutig hervor, wie viele der insgesamt über 70 Parteien überhaupt zugelassen worden sind.

In einem an die Presse verteilten Dossier sind zwei Listen zu finden: Eine zählt 27 Gruppierungen auf, die andere 29. Drei Tage vor den Wahlen hat noch niemand die Stimmzettel gesehen, man weiß aber, daß die mit ihrer Herstellung damit beauftragte Druckerei in Kalifornien bei einigen Organisationen das Parteilogo vergessen hat. Aus Zeitgründen ist es unmöglich, diese für Analphabeten unentbehrliche Orientierungshilfe nachzutragen. Doch Wahlratspräsident Anselme Remy versicherte, man werde sich bemühen, das vor der Stichwahl am 23. Juli zu korrigieren. Der Schönheitsfehler ist, daß die benachteiligten Parteien wohl kaum in die zweite Runde kommen werden.

Obwohl angeblich über 90 Prozent der über 18jährigen Haitianer sich in die Wahllisten eingeschrieben haben, ist eine hohe Wahlenthaltung zu erwarten, und die Anzahl der ungültigen Stimmen wird wohl weit über dem 1990 gemessenen Niveau von 20 Prozent liegen. Denn die Vorbereitung der Wähler war so unzureichend, daß selbst Leute mit Schulbildung kaum durchblicken. Zu allem Überfluß verschwanden in den letzten Wochen rund eine Million Wahlregisterkarten, ohne daß sich der Wahlrat dies erklären könnte. Für Edwidge Balutansky, die Chefin eines Journalistenausbildungszentrums, sind die ganzen Wahlen daher höchst suspekt. Sie befürchtet, daß den USA und der rechten Oligarchie daran gelegen sein könnte, das Wahlergebnis anfechtbar und damit den abzusehenden Sieg der Lavalas so fragwürdig wie möglich zu machen.

Verschoben wurden die Wahlen bereits mehrmals, und ein weiterer Aufschub würde das Funktionieren des Staatswesens kaum in Frage stellen. Die Abwesenheit eines Parlaments, dessen Amtszeit im vergangenen Februar bereits ablief, ist hier kaum bemerkt worden. Aristide hat sich nicht einmal dazu hinreißen lassen, wichtige Entscheidungen per Verordnung durchzudrücken. Das einzige Präsidentendekret von Tragweite betrifft die Auflösung der Armee. Doch auch in diesem Fall machte der Staatschef deutlich, daß diese Verfassungsänderung vom Kongreß bestätigt werden müsse. So wird die Wahl vom Sonntag nicht zuletzt ein Plebiszit über das Weiterbestehen der Streitkräfte: Ein von der Rechten beherrschtes Parlament würde die Entscheidung kaum ratifizieren.

Sollte Lavalas mit einer überwältigende Mehrheit gewinnen, bekämen radikale Kräfte Oberwasser, die verlangen, daß Aristide seine Amtszeit um die drei „verlorenen“ Jahre des Putschregimes verlängere – eine Variante, die ebenfalls einer Verfassungsänderung bedürfte und vor allem aus dem Mangel an attraktiven Thronfolgekandidaten für den charismatischen Aristide geboren wurde. Der Präsident selbst hat sein Wort gegeben, daß er sein Amt am 7. Februar 1996 abgeben und sich erst im Jahr 2000 um eine zweite Amtszeit bemühen will.