■ Ökolumne: Meer Risiko! Von Thomas Worm
Das Risiko ist von Natur aus unsichtbar. Erst wenn die befürchteten Folgen wirklich eintreten, wird es erfahrbar. Dann aber ist es kein Risiko mehr, sondern gefährliche Realität. Moderne Menschen neigen dazu, das Unsichtbare zu verdrängen, zu leugnen. So behaupten etwa britische Shell-Manager, die geplante Seebestattung der Brent Spar für nur zwölf Millionen Pfund wäre ein „vernachlässigbares Risiko“ gewesen. Für den verseuchten Bohrtank vor der schottischen Küste mag das sogar stimmen. Nur, jeden Tag taucht eine Brent Spar im Meer des Vergessens unter. Und nicht nur eine. Viele. Zigtausende Tonnen Schadstoffe, darunter Dutzende toxischer Chlorverbindungen lassen allein deutsche Chemieproduzenten Jahr für Jahr in der Nordsee verschwinden. Die europäischen Minister haben diese unzähligen Risiken soeben auf der Nordseeschutzkonferenz für die Dauer des nächsten Vierteljahrhunderts abgesegnet, die Giftfrachten dürfen überall weitersprudeln. „Mit anderen Worten: die Unbedenklichkeiten summieren sich bedenklich.“ Hat Ulrich Beck bereits vor etlichen Jahren über die Risikogesellschaft gesagt.
Die pragmatischen Angelsachsen haben ihrer Philosophie des „Pump and dump“ einen hübschen Namen gegeben, er heißt Risk Management. Die Risiko-Manager stellen die letztlich unbekannten Gefahren eines Industrieprojekts dem möglichen Geldnutzen gegenüber: Umsätze und Gewinne, Arbeitseinkommen und Kostenvorteile. Hierbei wird allerdings jede umstrittene Chemikalie, jede riskante Produktionsmethode, jede fragwürdige Müllverklappung nur für sich betrachtet. Wechselwirkungen der Gefahren mit der ohnehin schon überlasteten Umwelt hingegen vernachlässigt diese spalterische Sichtweise. Mit dem Resultat, daß der Gefahrenbeitrag jedes Einzelprojekts in aller Regel als unerheblich angesehen wird, als harmlos. Motto: Was macht das bißchen Dreck schon aus? Obwohl die Ursache-Wirkungs-Ketten fast nie genau bekannt sind, rechnen die Risikostatistiker dennoch mögliche Schäden klein. Der Hokuspokus solcher Abschätzungen gipfelt dann oftmals in Zahlen wie diesen: 100 freigesetzte Tonnen Schadstoff lösen im Schnitt 0,0002345 mal Nierenkrebs aus. Alles klar?
Wer das für Mathematik von Öko-Deppen hält, dem sei die Lektüre des britischen Positionspapiers „Risiko-Nutzen-Analyse von Altstoffen“ zur Nordseeschutzkonferenz empfohlen (die wahre Bibel für Brent Sparer). Das Papier haben Großbritanniens Handels- und Umweltminister gemeinsam mit den Chemiemultis Procter & Gamble, ICI und Ciba verfaßt. Es soll als „objektive“ Entscheidungshilfe fürs Risikomanagement dienen. Auch der Wert des Lebens ist darin aufgeführt. Denn schließlich möchte man die eventuellen Beeinträchtiungen von Mensch und Natur in Heller und Pfennig dem materiallen Nutzen der Chemieprodukte gegenüberstellen. 500.000 Pfund kostet zum Beispiel ein statistisches Menschenleben (in Preisen von 1987). Diesen Wert bevorzugt auch das britische Verkehrsministerium. Wie errechnet? Durch Auswertung von Verbraucherbefragungen. Was wären Sie bereit zu zahlen, wenn sich Ihr Unfallrisiko in der Bahn oder im Flugzeug halbiert, wollen die Befrager da unter anderem wissen. Anschließend wird ein wenig dividiert und zum Abschluß gemittelt. Aber – dem Himmel sei Dank – Krämerseelen, die so was machen, hocken wohl nur auf der anderen Seite des Kanals.
Oder doch nicht. Wilfried Sahm, Geschäftsführer des Deutschen Verbandes der Chemischen Industrie, sympathisiert jedenfalls mit den Briten. Noch am 7. März dieses Jahres hat er sich in einem Drohbrief an Angela Merkel gewandt. Statt konsequentem Vorsorgeprinzip und Stoffverboten hat er eine umfangreiche „Risikoabschätzung“ jeder einzelnen Problemchemikalie von der Umweltministerin verlangt. Die geforderte Einbeziehung ökonomischer und sozialer Faktoren im Rahmen der Risikobewertung soll offenbar jedes harte Umweltrisiko weichmachen. Der Sahmsche Mut zum Risiko bedeutet eigentlich nichts anderes als „Das Meer wird's schon schlucken.“ Den Produktionsstop erbschädigender Chlororganika zu ertrotzen, die zuhauf in Pottwalen gefunden wurden, bleibt dann Greenpeace überlassen. So grad' geschehen mit den Chlorparaffinen der Hoechst AG. Und weil das so ist, sinkt die Brent Spar. Jeden Tag. Im Rhein. In der Nordsee. Im Atlantik ...
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