Der Klingelbeutel der Muttergottes

■ Der Bremer Franz Jentschke sammelte unter Sudetendeutschen eine Millionen Mark für die Rettung eines Wallfahrtsortes in Tschechien / Ein Porträt und mehrere Wunder

Er ist vielleicht ein Heiliger. Sicher ein komischer Heiliger. Am Ende wohl beides. Nach 70 Jahren Leben. Der Franz Jentschke.

In Bremen hat er eine katholische Wohnung. Auf den Boxen der Stereoanlage stehen Heiligenfiguren. Neben der Durchreiche im Wohnzimmer hängt übergroß der Gekreuzigte. In der Ecke neben der rustikaleichenen Garnitur die heilige Maria. Und dann gibt es in der Schwachhauser Wohnung noch DIE KARTEI. Niemand verläßt Franz Jentschkes Wohnung, ohne die Spenderkartei gesehen zu haben. Auf den Karteikarten gibt es rote Reiter, die bedeuten: 600 Mark gespendet. Die weißen Reiter besagen: 1000 Mark gespendet. So hat Herr Jentschke immer einen hervorragenden Überblick, „wo ich die höchsten Spenden erwarte“.

Das zweite Zentrum im Leben des Franz Jentschke liegt in Grulich. Der Ort befindet sich in der Tschechei und heißt eigentlich Krlky. Oder heißt er eigentlich Grulich? Heißt das Land ringsum Sudetenland? Wichtigste Frage aber: Wie geht es dem Muttergottesberg?

Herr Jentschke ist als Sudetendeutscher aufgewachsen in der Nähe von Grulich. In Grulich war der Muttergottesberg eine bedeutende Wallfahrtsstätte. Da hatte er als Kind mal einen Rosenkranz aus Zucker bekommen. In Grulich war er später Briefträger. Dann kam der Krieg. Gefangenschaft. Flucht. Zwei Wochen Heimat. Dann die Vertreibung. Ein Leben in der Fremde, die Bremen hieß. Hier schaffte er es bis zum Postamtsleiter und erfolgreichen Versicherungsvertreter. Mit Mercedes und großer Wohnung. Dann passierte etwas mit seinem Kopf. Das Blut floß nicht mehr richtig. Ein Arzt fragte: „Haben Sie mal etwas Fürchterliches erlebt?“ Er hatte Fürchterliches erlebt. Er war aus russischer Gefangenschaft geflohen. Ein Jahr gejagt worden. Von Tschechen fast zu Tode geprügelt worden. Jetzt saß er sieben Jahre lang „am Fenster wie doof“. Drei Gehirnschläge. Er konnte nicht mehr lesen, schreiben, telefonieren. Einmal aber fuhr er zum Muttergottesberg. Er sah, wie alles bröckelte und zerfiel, wie die ganze deutsche Kultur im Tschechenland. Im Sudetenland. Und dann geschah ein Wunder. Das Blut floß wieder. Der Arzt wunderte sich. Und Franz Jentschke begann, den Muttergottesberg zu retten.

Franz Jentschke ist ein kleiner Mann mit graublauen Augen und lebhaften Händen. Ein bißchen Buchhalter. Beseelt von einem naiven Kinderglauben. Besessenheit würde man bei ihm nicht erwarten. Doch am 31.1.1989 begann er, nicht mehr zu schlafen, das heißt, er stand um Mitternacht oder um zwei Uhr auf und schrieb Briefe. 60.000 Briefe hat er verschickt, an Sudetendeutsche, mit einer Erklärung zur Situation des Muttergottesberges, zu seinem Rettungsprogramm und mit einer Bitte um eine Spende. Die Sudetendeutschen gelten als sparsam, wenn nicht geizig. Und die Sudetendeutschen gelten als die letzten, die für ein Projekt in der Tschechei spenden würden. Auch wenn sie nicht in einer Landsmannschaft organisiert sind, auch wenn sie nicht vom Wiederanschluß des Sudetenlandes an Deutschland träumen, von heim ins Reich – alle tragen in sich Greuelgeschichten von schrecklichen Massakern und widerlichen Verbrechen, die den Vertriebenen nach Kriegsende von Tschechen angetan wurden. Dinge, die man nie vergessen kann. Wie sollte da jemand spenden? Aber fragt man Franz Jentschke heute nach dem Erfolg seiner Spendenaktion, reibt er sich vergnügt die Hände und nennt eine unglaubliche Zahl: 1.197.842 Mark gingen bis zum 9.6.1995 bei ihm ein.

Eine Pforte im Ort Grulich markiert den Beginn des „Kreuzweges“; von da geht es steil den Muttergottesberg hinauf, vorbei an acht Kapellen zum Knien und Beten. Oben auf dem Berg die Kirche, in der zum Beispiel Fingerknöchelchen des Hl. Johannes Nepomuk aufbewahrt sind. Daneben ein Kloster und ein großes Pilgerheim. Äußerlich ist alles schon wieder sehr schön hergerichtet, selbst der Spruch über der Tür zum Pilgerheim wurde – eine arge Prüfung der tschechischen Einheimischen – neu gemalt: „Gott zum Gruße“. Im Grulich hat Herr Jentschke eine Buchhalterin sitzen, die die Löhne für die tschechischen Handwerker auszahlt. Der Pilgerbetrieb ist wieder angelaufen. Das Städtchen selbst schmückt sich mit frisch geputzten Fassaden. Es kommt Geld nach Grulich. Franz Jentschke, dem die Kommunisten seinerzeit noch wütend aufs Auto einschlugen, ist heute hier ein geachteter Mann. Selbst wenn er kein Tschechisch spricht. In seinem Dorf damals hatte es kaum eine Handvoll Tschechen gegeben.

Herr Jentschke verschickt von Bremen aus selbst produzierte Kassetten. Darauf hört man die Glocken der Wallfahrtskirche läuten. Man hört eine „Führung“ durch das Gotteshaus. Man hört Lieder. Von „Menschen mit der herben, sinnig-tiefen Art“, wo sich „träumerisch-versonnen Wesen mit energisch-zähem Willen paart“. Man hört vom „weichen Arm der Heimatliebe“ und: „'s woar immere so.“ Herr Jentschke findet offensichtlich einen Weg in die wunden Herzen seiner Landsleute. Und also in die Geldbeutel. „Es sind die Alten, die spenden. Sie erinnern sich plötzlich an ihre Kindheit,“ sagt er. Jede Spende beantwortete er mit einem persönlichen Brief. Einmal hörte er, daß eine alte Frau noch ganz voller Grimm ist über das, was sie mit ihrem Vater gemacht hatten. Sie reagierte nicht auf seinen Spendenbrief. Da fuhr er hin. Mit Dias vom Muttergottesberg. Und? Hat er es geschafft? „Na selbstverständlich!“ Sagt's, springt auf und läuft zu seiner Kartei. Zieht ihre Karte, „da sehen Sie, da steht alles ganz genau drin, was sie von 1990 bis 1993 gespendet hat.“

Den Landsleuten das Geld aus der Tasche ziehen für den guten Zweck, das macht Franz Jentschke einen Riesenspaß. Da hat er einen, der malt ihm kleine Bilder vom Muttergottesberg, schön im dicken Goldrahmen, die kriegen Spender der 600-Marks-Kategorie geschenkt. „Und was glauben Sie – die haben wiederum 200.000 Mark gebracht!“ lacht er. Oder die Osteraktion: für 16.698 Mark Kerzen und Rosenkränze verschickt. Eingenommen: 101.658 Mark! Die Mutter Gottes wird's danken. 7682 Gebetserhörungen wurden auf dem Muttergottesberg gezählt. Allein bis zum Jahr 1749. 1894 wurde ein vom Schlagfluß Gelähmter geheilt. Ein Brunnen dort heilt Augenkrankheiten. Jüngst hörte Jentschke von einem aus Dresden, der nach einem Augenbad dort um eine Augenoperation herumkam.

Gott weiß, daß es sich leichter anhört, als es oft war. Bis vor kurzem sprach die Landsmannschaft kein Wort mit Franz Jentschke. Er hat üble Post erhalten, „Es ist schade, daß sie Dich nicht erschlagen haben, Du Judas!“ Erschlagen: damals, auf der Flucht vor den Russen, waren es Tschechen, die ihn fast zu Tode prügelten. Es war aber auch ein Tscheche, der ihn unter Lebensgefahr versteckte. Daraus sollten die Leute lernen. Es gehe ihm heute, sagt er, nicht mehr so sehr um die Rettung von Mauern. Es passiert ja etwas ganz anderes. Es gelingt Versöhnung. Mit sich selbst, der eigenen Geschichte, der alten Heimat, den Menschen, die dort jetzt leben. Jeder, der spendet, ist ja ein Stückchen gerettet. Er hat in eine neue Zeit investiert. Burkhard Straßmann