Ort der Hoffnung, Ort der Erinnerung

Das Anliegen des in Hongkong lebenden und aus China stammenden Schriftstellers Leung Pingkwan sind die Integration des Fremden und ihr kultureller Ausdruck in der Stadt. In all seinen Erzählungen und Gedichten sind Immigration und Identität ein unterschwelliges Thema. Im folgenden ein Ausschnitt aus seinem Roman „Stadtmemoiren, Stadtgeschichten“, in dem die Einwandererexklave Walled City geschildert wird.

Zärtlich streichelt er seinen Schatz, seine uralte Kamera, während er mit der anderen Hand sein Bierglas hebt. Er leert es in einem Zug und erzählt, wie er in der Walled City fotografiert hat. Biertrinken und Fotografieren, das sind seine Leidenschaften. Wenn er getrunken hat, erzählt er besonders interessant von seinen Fotos. Auf dem vollen Tisch liegen Schwarzweißfotos verstreut zwischen Solgans, Tofu und eingelegtem Gemüse. Auf dem Bild vor mir stehen er und seine Freundin in einem verrotteten Türrahmen nackt aneinandergeschmiegt auf einem eingefallenen Dach unter einer fischgrätenähnlichen Antenne. Dämmerlicht breitet sich in kleinen Wellen auf ihrer Haut aus.

Er zeigt der schicken Amerikanerin an seiner Seite die alten Rechnungsbücher, Abakusse und Türschilder von Zahnärzten auf seinen Fotos. Aus den Augenwinkeln heraus erkenne ich den ehemaligen Sitz eines Fischbällchenladens in der Guangming Street, doch ja, das war früher die größte Fischbällchenfabrik in ganz Hongkong! Und dort war auch eine Kuchenfarbrik und eine Schweineblutverarbeitung. Selbst Freunde, die Hongkong vor mehr als zehn Jahren verlassen haben, würden sich bei diesen Bildern unwillkürlich zutiefst nach der Vergangenheit zurücksehnen: Wie sah es jetzt dort aus? War alles abgerissen? O. versucht die Amerikanerinnen immer und immer wieder dazu zu überreden, heimlich mit ihm über den Stacheldraht zu klettern. Er erzählt, wie er mitten in der Nacht über die Dächer gerannt ist und in den Himmel geheult hat. Wie sie nach ein paar Bier unter freiem Himmel Liebe gemacht und beim Aufwachen den Sternenhimmel gesehen haben, das sei schon bewegend gewesen.

Wir diskutieren darüber, wo wir in Hongkong unsere Installationen ausstellen könnten. Das städtische Theater ist geschlossen, das Kulturzentrum hat seine eigenen Bedingungen, das Ausstellungszentrum ist durch und durch kommerziell. O. plädiert leidenschaftlich für die Walled City in Kowloon. Er erklärt sie zu einem freien, romantischen, antikommerziellen, politischen und gleichzeitig antipolitischen Ort. Er schimpft über die sensationslüsternen Fotografien der Langnasen, die Pressebilder der Regierung und die billige Gefühlsduselei in Huangs Zeitungskolumne „Die edlen Gefühle dieser Welt“. Er habe es satt, tagein, tagaus erotische Bilder von Modells im Rotlichtviertel zu machen. Deshalb dringe er nachts heimlich mit einem Dutzend Bierflaschen unterm Arm in die verlassene Walled City ein, um dort im verborgenen zu trinken. Nur dort fühle er sich frei. Es klingt, als rede er von einem Paradies. Seine Arbeit verabscheue er zutiefst, stets müsse er die Modells bitten, sich möglichst leicht anzuziehen, ihre weißen Brüste zu entblößen und so weiter und so fort. Sein wahres repräsentatives Werk dagegen seien die Bilder, die er in der Walled City geschossen habe: nackt, dörflich, ehrlich, autobiographisch, eine Beichte. Die Freunde aus den USA sind sichtlich gerührt. Sie glauben, einen echten Hongkonger Künstler getroffen zu haben. Besonders in dieser Umgebung – außerhalb der Walled City in einem kleinen Chaozhou-Restaurant an Tischen im Freien bei einem Mahl, das ein wüstes Chaos aus Geschirr hinterläßt, die Bäuche voller Bier – bekommt seine Geschichte eine geheimnisvoll-romantische Note.

Er erklärt der Amerikanerin, daß die Walled City in der Vergangenheit ein Gebiet jenseits der drei Mächte war und weder unter britische noch unter chinesische Hoheit fiel. Ein anderer Freund erzählt von dem gerade erfolgten Abriß und der Umsiedlung der Bewohner, den sich regenden Widerständen und den Entschädigungsforderungen. Einige beschweren sich über ungerechte Entschädigung und wieder andere darüber, daß gewisse Leute Vorteile für sich daraus zögen. O. knallt seine Fotos auf den Tisch und deutet auf die Transparente auf seinen Bildern: „Das sieht man alles hier!“ Mein lieber Freund O., er ist tatsächlich davon überzeugt, diese Stadt dokumentiert zu haben, indem er uns seine Freundin und sich selbst nackt präsentiert. Ich sehe auf einmal keinen großen Unterschied mehr zu seinen kommerziellen Bildern, außer daß er brüllt: „Widerstand den Autoritäten! Nieder mit der Ausbeutung! Freie Liebe! Radikale Befreiung!“ Er hat anscheinend zu viel getrunken. Schließlich wiederholt er immer wieder: „Wenn ihr die Walled City sehen wollt, seht mich an. Ich bin die Walled City!“ Dann fängt er an, sich zu entkleiden.

Wir überlegen, wie wir ihn am besten nach Hause bringen. Doch er reißt sich los. Sein aufgeknöpftes Hemd legt eine weiße Gestalt bloß, der man durch die Rippen blasen kann. Er steht auf, hält seine Fotos in die Luft und deutet auf die hohen Gebäude im Bildhintergrund. Das, was dort eingeschlossen sei, sei die Stadt in der Stadt, das Zentrum im Zentrum, ursprüngliches Dorf inmitten der Stadt. Ein Ort der Glückseligkeit, der Verderbtheit sowie des neuen Lebens! Eine Quelle mitten im Ödland! Frisches Blut von gezogenen Zähnen und heilige Zahnputzgläser! Die Heimat der Fischbällchen, wo lebende Fische vorsichtig zerrieben, gepeitscht und zu Fischbällchen verarbeitet werden! Herzförmiges Schweineblut aus geronnenem heiligen Wein, grünes Land, über dem die Kuchen aus Kindertagen schweben, Konzentrations- und Ausgangspunkt aller Energie, ein postkolonialer Ort, der weder besetzt noch entstellt worden ist! Aaaah, laut schreiend rennt er, ohne daß wir ihn aufhalten könnten, auf die gegenüberliegende Straßenseite und verschwindet in der trügerischen Wirklichkeit des Stadtrandes.

Leung Pingkwan

Übersetzt aus dem Chinesischen von Beate Rusch