Deutsch-russische Freundschaft

Die Ural hustet. Benzin ist knapp, die Straßen leer. In einem Ural-Gespann von Rußland nach Europa  ■ Von Petra Gall

Die berühmte Fernverkehrsstraße M1 (E30) beginnt direkt am Moskauer Kreml. Fuß aufs Gaspedal, und man ist in 30 Stunden in Berlin. Sehen tut man so natürlich nichts. Außer Birkenwäldern und Tankstellen. Wir wählen die langsamere Variante und machen uns mit einem Ural-Gespann auf den Weg. Doch die 1.000 Kilometer bis Brest sind keine Urlaubsfahrt, eher eine Gedenkfahrt. Die M1 ist eine der leidvollsten Straßen der Welt. Die Vergangenheit ist allgegenwärtig.

Am Ende des Kutusowski-Prospekts stehen das Panoramamuseum der Schlacht von Borodino und der Triumphbogen, Zeichen des Sieges über Napoleon. Etwas weiter der monströse, bereits unter Breschnew begonnene Memorialkomplex und „Die Waffen des Sieges 1941–45“. Anfassen erlaubt: überall sitzen Kinder und Erwachsene, drehen und schalten. Hier fand am 9. Mai die Militärparade statt.

Wir verlassen Moskau. Nach etwa 20 Kilometern ein Wegweiser: Peredelkino. Das Dichterdorf. Fans von „Doktor Schiwago“ wissen Bescheid: Dort befinden sich das Landhaus und Grab von Boris Pasternak.

Der Highway M1: vierspurig, ohne Seitenbefestigung. Überholt wird links und rechts und sowieso nur die linke Spur benutzt, weil rechts zu viele Schlaglöcher sind.

Das riesige Feld von Borodino liegt menschenleer in der Spätnachmittagssonne. 1812 fand hier die entscheidende Schlacht zwischen der napoleonischen und der Zarenarmee statt. Im Winter 1941 war es erneut Schauplatz blutiger Kämpfe. Von Borodino blieben nur zwei Häuser übrig. Es wurde neu aufgebaut. Wir übernachten privat – mit eiskaltem Brunnenwasser, Plumpsklo und den quietschenden Entenküken unter dem Küchentisch.

Im Geburtsort von Gagarin, dem ersten Menschen im Kosmos, sind es am nächsten Morgen 7 Grad Celsius. Der Ort ist reichlich häßlich. Stas hatte mich gewarnt: „Was willst du dort? Die meisten Einwohner sind ehemalige Strafgefangene, die nicht näher an Moskau siedeln durften.“

Die Ural hustet. Stas schaltet auf Reserve. Die Zapfsäulen der Tankstellen sind meist leer. Oft gibt es nicht mal Schläuche. Aber Sprit kriegen wir letztendlich doch. „Nach Berlin? Mit dem Motorrad?“ Das liegt jenseits der Vorstellungskraft. Die Ural gilt als Arme-Leute- und Transportfahrzeug. „Und das Kind fährt auch mit?“ Damit bin ich gemeint. Bin halt 1,53 Meter klein. Würden sie mir ins Gesicht statt auf meine Klamotten gucken, kämen sie nicht auf so eine blöde Frage. Der Straßendreck hat jede Falte hübsch schwarz modelliert.

Smolensk erstreckt sich auf Hügeln und bietet immer wieder neue Ansichten. Gut erhalten bzw. restauriert sind die Mauern und Türme der Festung und die Mariä- Himmelfahrt-Kathedrale mit einer beeindruckenden Ikonenwand.

30 Kilometer hinter Smolensk liegt in den Wäldern von Katyn eine Gedenkstätte. 1940 ließ hier der sowjetische Geheimdienst Tausende von polnischen Kriegsgefangenen ermorden. Erst seit ein paar Jahren darf darüber gesprochen werden. In der offiziellen Geschichtsschreibung waren die Deutschen die Täter.

An der weißrussischen Grenze winkt man uns durch: „Weiterfahren!“ knurrt der Zöllner.

Weniger Verkehr und eine bessere Straße signalisieren Benzinknappheit. Allenthalben Relikte aus der Sowjetzeit: Hammer und Sichel, verwitterte Lenins und Kolchosen, die „Gigant“ oder „Sieg“ heißen. Am Straßenrand Imbißstände. Aber die schöne Reklame hält nicht, was sie verspricht. Weiße Rauchschwaden sind jedoch eindeutig: Schaschlik. Und nicht nur das. Einer zapft für uns aus seinem Lada zehn Liter Benzin und zeigt auf die andere Straßenseite. Dort stehen zehn Westautos mit Exportkennzeichen im Regen. „Die sitzen fest. Kein Benzin.“

Kurz vor Minsk wird uns auf einmal bewußt: Wir fahren auf einer richtigen Autobahn. Während bei mir Erinnerungen an die bundesdeutschen Straßen zur Zeit der Benzinkrise aufkommen, brüllt Stas mir zu: „Wir nähern uns Europa!“ Das sollte eine Anspielung sein. Ich ärgere ihn immer damit, daß ich ihm sage: „Rußland – das ist nicht Europa.“

In Minsk sind viele Straßen umbenannt, doch ein monumentaler Lenin steht immer noch auf dem Leninplatz. Nur daß die Kirche nebenan wieder „arbeitet“. Früher diente sie als Sporthalle. Minsk ist über 900 Jahre alt. Aber davon ist nichts mehr zu sehen. War in Friedenszeiten die geographische Lage der Stadt für eine Vermittlerrolle gut, so wurde in Kriegszeiten alles verwüstet. Im Zweiten Weltkrieg kam jeder zweite Stadtbewohner ums Leben, jeder vierte in der Republik.

Heute versucht Minsk den Anschluß an Europa zu finden. Dank der Hilfe zweier deutscher Unternehmensberater übernachten wir komfortabel in einer zum Hotel ausgebauten Etage im Studentenwohnheim der Technischen Hochschule: drei Zimmer mit Bad für 20 Dollar.

In Chatyn, 50 Kilometer nordöstlich von Minsk, holt uns die Vergangenheit wieder ein. Bis zum 22. März 1943 war es ein Dorf. Die deutschen Truppen brannten es mitsamt den Einwohnern nieder. Die Gedenkstätte soll an alle vernichteten Dörfer erinnern, von denen ein Drittel nie wieder aufgebaut wurde. Wie Schornsteine ragen die Stelen auf, an denen Glocken hängen. Der Klang verhallt im Leeren. Besucher sind selten geworden.

Die schnellste Ural westlich des Urals. Unsere Reisegeschwindigkeit ist 90 km/h. Da lassen wir alle rechts liegen. Bis wir rechts liegenbleiben. Kein Benzin mehr. Das hat uns wohl nachts in Minsk jemand abgezapft – und die Reservekanister im Kofferraum glücklicherweise übersehen.

Etwa 100 Kilometer vor Brest liegt Berjoza mit einem Kloster, das unter polnischer Herrschaft eine katholische Hochburg, später ein Gefängnis und unter den Nazis ein KZ war.

Pech für Napoleon in Kobrin. Auch hier hat man ihm eine empfindliche Niederlage beigebracht. Im heutigen Stadtpark besaß der legendäre russische General Suworow ein Gut. Jetzt ist dort das Museum für Militärgeschichte untergebracht.

Im Park neben dem Brester Bahnhof erhebt sich über einem Massengrab ein riesiges Kriegerdenkmal. Am Stadtrand steht die Festung, die den Hitlertruppen einen Monat standhielt. Sie ist heute Gedenkstätte.

An der Grenze zu Polen zügige Abfertigung. Seit mehrere Übergänge für den kleinen Grenzverkehr geöffnet wurden, hat sich die Situation auf dieser Seite entschärft.

Meine Anspannung läßt nach. Das Bewußtsein, über Millionen von Toten zu fahren und zu sehen, wie schlecht es den Siegern von damals geht, war mitunter allzu beklemmend.

Plötzlich links und rechts der Straße große Reklametafeln auf russisch: „Gute Secondhandkleidung, gute Gebrauchtwagen – billiger als in Deutschland.“ Die geschäftstüchtigen Polen haben eine neue Klientel gefunden. Und alle paar Meter eine Bar, Tankstelle, Motel, Geschäfte. Ich kann eine gewisse Erleichterung über kapitalistische Annehmlichkeiten nicht leugnen.

Spaß machen die Überholmanöver mit den vollbepackten Polski-Fiats. Ich sitze auf Blickhöhe mit den Fahrern, und es gibt immer ein nettes Grinsen, wenn wir vorbeiziehen. Überhaupt funktioniert die zwischenmenschliche Kommunikation wieder: guten Tag, danke, bitte. Man schaut mir in die Augen, wenn man mit mir redet.

Warschau am Abend. Die Skyline blinkt vielversprechend. Im Motel ist der Teufel los: Eine Hochzeitsgesellschaft feiert.

Am nächsten Morgen kommen wir in das Einzugsgebiet der Westtouristen: Verkaufsstände mit Bergen von Zwergen und Zigaretten. In Frankfurt (Oder) schlängeln wir uns an der Grenze geschickt durch, und schon schüttelt uns die Plattenautobahn.

Berlin glänzt mit schönem Wetter. Stas will weiter. In den Süden Europas. „Wenn schon, denn schon.“ Also wechseln wir die Klamotten, tauschen Benzinkanister gegen Zelt und Badesachen und fahren bis Gibraltar und zurück. Doch das ist schon wieder eine andere Geschichte...