Hajo Scholz ist unterdialysiert!

Fünfhundert Folgen „Lindenstraße“ im Spiegel der Zuschauerzuschriften  ■ Von Klaudia Brunst

„Liebe Frau Spatzek“, schreibt der Darmstädter Hubert H. im Juni 1993 an die Darstellerin der Gaby Zenker aus der Lindenstraße, „beiliegend ein Gedicht an Sie. Es sagt alles. Ich will mich mehr oder weniger darauf beschränken, weil ich kein so guter Briefeschreiber bin. P.S.: Das Gedicht habe ich übrigens auch an einige Ihrer Kolleginnen geschickt, weil ich einige von Euch Schauspielerinnen einfach toll finde!“

Wie Hubert H. schreiben täglich Dutzende von Zuschauern Briefe an das Produktionsbüro der „Lindenstraße“ in Köln-Bocklemünd. Die meisten bitten um fehlende Autogrammkarten „zur Komplettierung meiner Sammlung“, etliche versehen die Bestellung aber auch mit zumeist kuriosen Bemerkungen, Wünschen, Kommentaren oder Anregungen zum Fortgang der Handlung. Die Post landet auf dem Schreibtisch von Ilonka von Wisotzky, die den Eingang sortiert, verteilt, meist auch beantwortet und schließlich in fortlaufenden Ordnern abheftet. Zehn Jahrgänge stehen nun schon in ihrem Regal – ein Nebenprodukt von 500 Folgen „Lindenstraße“.

Seit eh und je schreiben Fernsehzuschauer an die TV-Sender. Aber die Endlosserie aus der Feder von Hans W. Geißendörfer und seinen beiden Ko-Autorinnen Martina Borger und Elisabeth Straub hat – wie sonst vielleicht nur die „Schwarzwaldklinik“ – die Frage aufgeworfen, ob sich an den, in der Presse immer wieder gern zitierten Einsendungen vielleicht doch ein Realitätsverlust der Zuschauer ablesen lasse. So wie seinerzeit etliche Medienwissenschaftler erschrocken zur Kenntnis nahmen, daß die Menschen zuhauf ins Glottertal pilgerten, um Prof. Brinkmann die Hand zu schütteln, weiß auch angesichts der Lindenstraßenzuschriften niemand so recht, ob und wie präzise das Publikum zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden vermag.

Leicht ließe sich mit den Ordnern die These belegen, hier träte tatsächlich eine gefährliche Vermischung von Facts und Fiction zutage. Da fragt zum Beispiel Susanna B. empört: „Was tut diese Anna Ziegler eigentlich den lieben langen Tag, daß sie so gehetzt wirkt? Für die (lammfrommen) Kinder sorgt schließlich die stets verfügbare Karola!“ Und Sandra S. wendet mit einem sehr realistischen Problem an die fiktionale Figur der Frau Beimer: „Ich wünsche mir zu meinem 18. Geburtstag das blau-weiße Kaffeeservice, das Sie in der Küche haben. Meine Mutter kann es allerdings nirgendwo finden. Deshalb bitte ich Sie, mir den Hersteller und evtl. den Namen mitzuteilen.“

Aber so schlicht und eindeutig ist der Zusammenhang von Realität und Reality-TV dann doch nicht herzustellen. Da wendet sich zum Beispiel im Herbst 1993 Axel U. mit einer technischen Frage an das „Lindenstraßen“-Team: „Warum“, so will er wissen, „stand der gelbe Käfer, der doch eigentlich Carsten Flöter gehörte [die Figur war zuvor aus der Serie herausgeschrieben worden], in der Folge vom 4. Advent 1993 wieder in der Lindenstraße? Außerdem glaube ich gesehen zu haben, daß der TÜV abgelaufen ist.“ Ganz offensichtlich, so möchte man meinen, gehört Axel U. zu jenen jungen, verspielten „Lindenstraßen“-Fans, die mit Arkibie Sonntag für Sonntag die Realitätsnähe der Serie auf Fehlerhaftigkeit absuchen. Man kann ihn sich richtig vorstellen, wie er das Videoband der Folge vom 4. Advent immer wieder vor und zurückgespult hat, bis er endlich die alte TÜV-Plakette erspähte.

Dann aber, wenige Aktenseiten später, schreibt Axel U. offenbar ein zweites Mal. Die Schrifttype der alten Schreibmaschine ist jedenfalls identisch, nur hat der Schreiber seinen Vornamen diesmal mit A. abgekürzt, vielleicht um sein Geschlecht zu verbergen. Denn der Brief, der mit „Liebe Frau Fischer“ beginnt, könnte gut von einer erfahrenen Hausfrau geschrieben sein: „In den besinnlichen Stunden der Nachweihnachtszeit“, heißt es da, „komme ich endlich dazu, Ihnen mal wieder zu schreiben. Mir ist nämlich aufgefallen, daß Sie bezüglich Hygiene kein großes Vorbild, vor allem für die Kinder sind: Nicht nur, daß Sie sich immer viel zu kurz die Zähne putzen (einmal sogar nur 21 Sek.!), nein – neulich haben Sie sich sogar im Waschbecken der Familie Beimer übergeben, ohne es danach wegzumachen! So weit darf es trotz aller Probleme, die ein Mensch hat, nie kommen!“

Ganz offenbar macht sich Axel U. einen Spaß daraus, immer wieder in verschiedene – auch im Geschlecht wechselnde – Rollen zu schlüpfen und somit sein eigenes Spiel mit der Realitiät zu treiben. Es gilt also wachsam zu sein, beim Durchblättern jener Ordner, die auf den ersten Blick so viel tragisch Wirklichkeitsfernes in sich zu bergen scheinen. Treiben womöglich auch die Leute in der Kölner Fußgängerzone nur ein durchtriebenes Spiel mit dem Darsteller des an den Rollstuhl gefesselten Dr. Dressler, wenn sie ihm verzückt zurufen: „Ein Wunder! Sie können ja wieder laufen!“? Und zeugt es nicht von einem durchaus autonomen, nämlich ironischen Umgang mit dem Medium, wenn eine aufmerksame Zuschauerin Berta Griese darauf hinweist, sie habe deren seit längerem vermißten Gatten erst letzte Woche auf dem ZDF-„Traumschiff“ gesehen? „Sicher freuen Sie sich, wo Sie ihn doch schon so lange suchen.“

Aber gibt es unter den Schreibern auch einen anderen Typus. Einen, der die Fiktion der „Lindenstraße“ mit ihren wöchentlich zehn Millionen Zuschauern als ein wichtiges öffentliches Forum durchschaut hat. „Sehr geehrte Damen und Herren“, beginnt ein Brief, der mit etlichen Namen unterzeichnet ist: „Wir, Patienten und Personal eines Dialysezentrums, protestieren hiermit gegen die Darstellung des Dialysepatienten Hajo Scholz in Ihrer Sendung. Als direkt bzw. indirekt Betroffene können wir dies, realistisch betrachtet, nicht so hinnehmen: Hajo Scholz ist unterdialysiert! Er würde bei drei Hömodialyden pro Woche à 4 Std. (mind.) die meisten seiner Beschwerde verlieren. Wir bitten Sie hiermit, die weiteren Folgen mit Hajo Scholz als Dialysepatient zu überdenken.“ Auch der Betreiber des „größten Bungalowparks im deutschen Tourismus“ wendet sich sozusagen in eigener Sache an die „Lindenstraße“: „Wir finden es so toll wie mutig, daß Frau Beimer ihr Reisebüro ,Ehrlich Reisen‘ eröffnet hat. Wir haben auch bemerkt, daß dort unser Prospekt – allerdings die Ausgabe 1989 – ausliegt. Um Ihrer Aktualität gerecht zu werden und diese auf den höchsten Stand zu bringen, überreichen wir Ihnen als Anlage einige Exemplare unseres aktuellen Prospekts '93. Wir bitten Sie, Frau Beimer die Prospekte auszuhändigen, damit sie ihren Kunden unsere Angebote unterbreiten kann.“

Während der Bungalowdirektor die üppigen Einschaltquoten von durchschnittlich neun Millionen Zuschauern als Chance begreift, sorgt sich Christoph Sch. eher um die öffentliche Breitenwirkung der Serie. Denn in Folge 458, die Christoph Sch. im übrigen „sehr gut“ fand, hatte Sarah ihren Vater um den Kauf von Filzstiften gebeten. „Hans hätte auf Holzstifte verweisen müssen. Viele Leute richten sich nach der Serie! Wie sollen die Kinder sonst Umweltbewußtsein lernen?“

Perfekt spiegelt dieser besorgte Hinweis das ökologisch aufrechte, politisch korrekte Image der Serie wider. Steckt womöglich auch hinter Christoph Sch. so ein Axel U., der die Serie für das nimmt, was sie seit zehn Jahren ist: das verzweifelte Ringen aller Beteiligten um eine bessere – und damit eben fiktionale – Welt?