Das Imperium schlägt den Buchhalter

Während Tony Rominger nach der 10. Etappe entnervt vom Rad steigt, gewinnt Miguel Induráin zum fünftenmal hintereinander: Heute startet in St. Brieuc/Bretagne die Tour de France  ■ Von Joachim Quandt

Wenn heute abend in Saint Brieuc in der Bretagne 189 Radprofis auf ihre futuristischen Zeitfahrmaschinen steigen, geht es nur am Rande darum, wer 7,3 Kilometer später als Schnellster ankommt. Die Sekundenunterschiede, die Spezialisten wie Chris Boardman oder Thierry Marie gegenüber den anderen Fahrern herausfahren werden, sind auf den folgenden 3.628 Kilometern quer durch Frankreich und Belgien unbedeutend. Die Ergebnisse von Miguel Induráin (30) und Tony Rominger (34) werden zwar Scharen von Sportreportern zu wilden Spekulationen verleiten, doch wer als Sieger auf den Champs-Élysées ankommen wird, entscheidet sich sicher nicht an der bretonischen Atlantikküste. Der Prolog der Tour de France ist vor allem pompös inszeniertes Produktmanagement. Die Protagonisten verschwinden unter aerodynamischen Helmen, setzen farbig verspiegelte Sonnenbrillen auf und rücken die Logos der Sponsorenfirmen zurecht. Das dramatische Gerede von der Tour der Leiden oder einer „Tortour“ ist hier nur Tarnkappe für den Kampf um eine Handvoll Werbeminuten.

Schließlich ist kaum eine Sportart so eng mit Wirtschaftsstrukturen verwachsen wie der Radsport. Seit den sechziger Jahren existieren im Profibereich ausschließlich Firmenmannschaften. Wenn sich das finanzielle Engagement nicht in Verkaufszahlen umrechnen läßt, verschwinden sie meist so schnell wieder, wie sie vorher entstanden waren. Während in den Achtzigern die wichtigsten Mannschaften noch aus den sogenannten klassischen Radsportländern Holland und Belgien kamen, verdienen heute die meisten der Profis in Spanien und Italien ihr Geld. Gerade in Spanien läßt sich Radsport dank der Erfolge von Branchenführer Miguel Induráin glänzend vermarkten. Die Finanzierung des Banesto-Teams ist bis 1999 so gut wie sicher.

Induráin, ganz der coole Camel- Mann, gewohnt, ruhig vor sich hinzuradeln, hat – wenn die Spekulationen aufgehen – dieses Jahr vor allem den hyperaktiven Marlboro- Cowboy Rominger (Mapei-GB) zum Gegner. Seine vier Tour-Siege verdankt der Baske vor allem dem berechnenden Abwarten. Eine Qualität, die dem gelernten Buchhalter Rominger fehlt oder zumindest bisher stets abhanden kam, wenn es gegen Induráin galt. In krampfhaftem Ehrgeiz läßt der Schweizer allerdings auch keine Trophäe aus. Beim diesjährigen Giro zog er das Rosa Trikot bereits am zweiten Tag über und gab es bis zum Ende nicht mehr her, gewann vier Etappen und ganz nebenbei auch noch zwei der drei Sonderwertungen. Das hat auch die Helfer müde gemacht. Für die Tour verfügt Rominger nun aber mit dem Belgier Museeuw, dem Italiener Bortolami oder den jungen Spaniern Olano und Escartin reichlich über frische Edeldomestiken, um den Kampf gegen Induráins Banesto-Imperium aufzunehmen.

Dessen sportlicher Direktor José Miguel Echavarri liebt es allerdings wie kaum ein anderer, das Fahrerfeld als großes Schachbrett zu sehen und auf dem Weg zum Gesamtsieg mit kleinen Geschenken überall Alliierte zu finden. Die unterschiedlichen Strategien zeigen, wie perfekt Rominger und Induráin in ihre Rollen als Werbeträger hineingewachsen sind. Schließlich muß der Schweizer beweisen, daß asturische Milch munter macht, und der Baske überzeugt spanische Kleinsparer davon, daß ihr Geld bei seiner Hausbank gut aufgehoben ist.

Seit das Fahrrad in Deutschland von einer finanzkräftigen Gesellschaftsschicht als Freizeitsportgerät entdeckt wurde, gibt es auch wieder Sponsoren für einen Profirennstall. Dieses Jahr wäre die Tour de France für das Team Telekom allerdings fast zum Nekrolog geraten. Die Vorbereitungen zur groß angelegten PR-Kampagne liefen auf Hochtouren, da bekam die Mannschaft keine der begehrten 20 Einladungen zur Tour ab. Hinter den Kulissen wurde viel gemunkelt, gar ein Racheakt für die zögerliche Beteiligung des Konzerns an der France-Telecom vermutet. Hektische Krisenverhandlungen konnten die Tourleitung am Ende davon überzeugen, wenigstens eine Rumpfmannschaft starten zu lassen. Sportlich verhindert die Reduzierung der Mannschaft von neun auf sechs Fahrer die Wiederholung der Fehler des letzten Jahres. Die Deutschen hatten auf den Flachetappen das Feld kontrolliert und die Massenspurts gut vorbereitet, doch am Ende fehlte Olaf Ludwig die Kraft, mit den Schnellsten mitzuhalten. Daß die Zusammenarbeit von Ludwig und dem neuen Sprintstar Erik Zabel in diesem Jahr besser funktioniert, haben bei der Tour de Suisse jüngst zwei Etappensiege von Zabel bewiesen.

Im Kampf um das Gelbe Trikot wird es im übrigen kommen, wie es kommen muß: Induráin deklassiert auf der achten Etappe, einem 54 Kilometer langen Einzelzeitfahren, alle anderen um zwei Minuten. Zwei Tage später kündigt Rominger vor der harten Alpenetappe mit den Bergankünften in den Skiretorten La Plagne und Alpe d'Huez Revanche an. Induráin verbündet sich mit den italienischen Jeansknackärschen Marco Pantani und Claudio Chiapucci (beide Carrera-Tassoni), denen er den Etappensieg schenkt, und Rominger, der nochmal fünf Minuten zu spät ins Ziel kommt, gibt, von einer plötzlichen Grippe geschwächt, auf.

Gewinnt der Baske die Frankreich-Rundfahrt als erster zum fünftenmal in Folge, dann wird es an peinlichen historischen Vergleichen genauso wenig mangeln wie am ewigen Genörgel von Eddy Merckx an Induráins ausschließlichem Interesse am Tour-Gesamtsieg. Gewinnt Induráin, dann wird es beim Überziehen des Gelben Trikots erneut zum spaßigen Kleinkrieg der Sponsoren kommen. Die Hostessen des Crédit Lyonnais, dem Hauptwerbepartner der Tour, versuchen seit Jahren, mit flauschigen Stofftierchen oder aufdringlichem Geknutsche elegant das Logo von Induráins Mannschaft zu verdecken. Schließlich steht dort ja der Name einer anderen Großbank. Das ist so, als gewännen die Opel-Bayern die deutsche VW-Meisterschaft.

Siehe auch Porträt Seite 11