Interpretationsstreit auf breiter Front

Die rot-grüne Koalitionsvereinbarung in NRW zu Garzweiler sorgt für einen Sturm der Entrüstung bei Bergwerksbetreibern und Umweltschützern /Streit um Kompetenzen  ■ Aus Düsseldorf Walter Jakobs

Es geht rund in Nordrhein- Westfalen. Manchem Sozialdemokraten zittern angesichts des scharfen Proteststurms gegen Rot-Grün inzwischen die Knie. Gestern nachmittag hielt das Ringen um die Kompetenzverteilung im künftigen Kabinett an. Eine Einigung war bei Redaktionsschluß immer noch nicht in Sicht. Was die neue Regierung im einzelnen tun oder lassen will, steht dagegen fest.

Der knapp 200 Seiten zählende Koalitionsvertrag liegt inzwischen unterschriftsreif vor. Gegen diesen Vertrag macht eine bunte „Koalition“ Stimmung, zu der neben dem Braunkohletagebaubetreiber Rheinbraun die Bergbaugewerkschaft IGBE ebenso zählt wie der Naturschutzverband BUND. Den tatsächlichen Text kennen dabei die wenigsten.

Was steht denn nun drin zu Garzweiler II? Hat der SPD-Fraktionsvorsitzende Klaus Matthiesen Recht, der bei jeder Gelegenheit sagt, Garzweiler II werde wie geplant kommen, und die Koalition müsse den Beschluß jetzt „vollziehen, oder sie werde leztendlich daran kaputtgehen?“ Oder liegen die Grünen richtig, die von einem „Zeitfenster“ reden, von Aufschub und Neubewertung des Projektes? Tatsache ist, daß die von der Landesregierung kurz vor der Landtagswahl erteilte Genehmigung für das Projekt gilt. Diese Genehmigung, so heißt es im Koalitionsvertrag, „ist an Auflagen gebunden, nämlich an die Entwicklung des Energiebedarfs und der energiepolitischen Rahmenbedingungen und an die Beachtung der sozialen und ökologischen Belange“. Wenn sich diese Rahmenbedingungen nachhaltig anders entwickeln als bei der Genehmigung unterstellt, dann wird Garzweiler II gar nicht oder nur teilweise genehmigt.

Den nächsten wichtigen Schritt im vorgesehenen Planungsverfahren stellt die Genehmigung des Rahmenbetriebsplans dar. Einen entsprechenden Antrag hat Rheinbraun für den Herbst angekündigt. Die Zulassung dieses Planes, so heißt es im Koalitionspapier, „setzt eine sorgfältige Prüfung ... voraus. Auch bei zügiger Abwicklung dieses Verfahrens ist nicht damit zu rechnen, daß die Zulassung vor den Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs zur Organklage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und zu den bis zum 31.März 1996 eingereichten kommunalen Verfassungsbeschwerden ergeht.“ Diese Formulierung bedeutet indes nicht, daß bis zur Genehmigung in jedem Fall die Urteile abgewartet werden.

Wichtiger für die „Zeitschiene“ ist der nächste Passus. Dort heißt es: „Vor Rechtskraft eines genehmigten Rahmenbetriebsplans finden keine Umsiedlungen statt und wird niemand gegen seinen Willen zur Aufgabe von Grundstücken gezwungen.“ Diese Formulierung tut den Betreibern wirklich weh, denn solange Klagen gegen den Plan laufen, steht dessen Rechtskraft in Zweifel. Der Sprecher von Rheinbraun, Reiner Hochscheid, sieht das ganz klar: „Diese Formulierung ist eine K.o.-Bedingung für Garzweiler II.“

Die Sozialdemokraten buchen diese Interpretation zwar unter Stimmungsmache ab, aber ganz falsch dürfte der Rheinbraun- Sprecher nicht liegen. Matthiesens Interpretation, es habe sich überhaupt nichts durch den „Kompromiß“ geändert, liegt auf jeden Fall neben der Sache. Johannes Rau beschreibt die Lage so: Es sei eine „Verständigung“ gefunden worden, „die die Rechtskraft der Genehmigung und das Projekt nicht gefährdet“, den Grünen aber die Möglichkeit einräume, „Chancen zu suchen, wie man diesen Prozeß verändern kann“.

Solche „Chancen“ bietet zum Beispiel die verabredete Politik des Energieeinsparens und die Erhöhung der Energieeffizienz. Garzweiler-Kritiker, wie etwa die Wissenschaftler vom landeseigenen Klimainstitut, halten den im Koalitionspapier eingeschlagenen Weg in Richtung „Energiewende“ deshalb auch für „gangbar“. Ein Garantie aber, Garzweiler II über diesen Weg in toto zu verhindern, gibt es nicht.

Nicht mehr als Formelkompromisse bietet dagegen die Vereinbarung in Sachen Chemie- und Genpolitik: „Die Landesregierung macht sich die Forderung der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zu eigen, die sich nach sorgfältiger Prüfung aller bestehenden Vorschläge zur Umstrukturierung der Chlorchemie für eine partielle Veränderung/ Konversion der Chlorchemie durch den Einsatz von alternativen Technologien oder Ersatzstoffen ausgesprochen hat, sofern dies ökologisch erforderlich sowie wirtschaftlich und sozial vertretbar ist. Die Landesregierung wird diesen Prozess nach Kräften unterstützen ...“

Bei der Gentechnologie will die neue Regierung dafür eintreten, daß diese Technologie in NRW „nicht ohne sorgfältige Abwägung der Chancen und Risiken verantwortungsvoll genutzt wird ...“. Diese Formulierungen sind gewiß nicht danach, um Gentechnikpropagandisten und Chemiekonzerne in Angst und Schrecken zu versetzen.

Reformpolitische Fortschritte weisen die Vereinbarungen im Innen-, Asyl- und Justizbereich auf. So will sich das Land entsprechenden Initiativen aus Hessen und Rheinland-Pfalz zur Regelung sogenannter Altfälle anschließen. Wörtlich heißt es dazu: „Bei Personen, die seit acht Jahren in der Bundesrepublik Aufenthalt haben (bei Personen mit mindestens einem Kind nach fünf Jahren) ... wird die oberste Landesbehörde jeden Einzelfall sorgfältig prüfen, um nach Möglichkeit den Aufenthalt der betreffenden Personen dauerhaft zu sichern und kurzfristige Vollzugshandlungen auszuschließen.“ Darüber hinaus soll eine „Härtefallkommission“ eingerichtet werden, die allerdings kein Vetorecht hat, sondern lediglich den Innenminister bei der Entscheidung über Härtefälle „berät“.

Unklar bleibt die Lage in NRW weiter in bezug auf die Abschiebung von Kurden. Zwar stellen beide Partner von vornherein klar, „daß Menschen nicht abgeschoben werden, wo Leib und Leben durch Folter und Krieg in Gefahr sind“, aber vor einer endgültigen Entscheidung will die Landesregierung erneut erst einmal „eine sachverständige Delegation beauftragen, sich einen eigenen unmittelbaren Eindruck zu verschaffen“.