Berlioz mit aufrechtem Gang

■ Mit 150 Jahren Verspätung konnte Hector Berlioz Requiem am Wochende im Bremer Dom landen / Am Steuer des 350-Personen-Jumbos: Domkantor Wolfgang Helbich

Wenn aus erdig-samtener Tiefe Streicher sich in Triolen im wohlklingenden Terzschritt in sphärische Höhen hangeln, um ebenso gleichmäßig wieder zurückzugleiten, rümpft der abgebrühte Musikfreund denn doch pikiert die Nase. Dergleichen kennt er zur Genüge: ihm sollen noch ein paar Tränen der Rührung abgewonnen werden, auf daß er getröstet nach Hause gehe, im sicheren Gefühle, für den horrenden Preis der Konzertkarte doch einen adäquaten Gegenwert an emotionaler Bewegung erhalten zu haben.

Im Dom zu Bremen erklang jene abgeschmackte Streicherwoge am Samstag und Sonntag, gleich sechsmal pro Abend, wie sie der Komponist des aufgeführten Werks in seiner Maßlosigkeit notiert hatte. Doch sie klang, als sei sie eben gerade erfunden. Lag es an dem eigentümlichen Klang der Pianissimo-Schläge von drei, vier oder sieben Pauken, die sie grundierten? Nicht nur, sie schien ihm richtig, authentisch und wahr, weil er zuvor erleiden mußte, was Menschen bedrängt. Er ging mit durch die Hölle, ihm wackelten die Knie, bebten die Knochen, er hörte flehentliches, süßes Bitten um Gnade, er sah unerbittliche Macht und gnadenlose Größe und schwamm in einem wildbewegten Meer von Tränen – und dann ereignete sich für ihn Unerwartetes: die Angst wird bewältigt. Nicht getröstet, sondern mit aufrechtem Gang kann er den Ort des Geschehens, den Bremer Dom verlassen.

Hector Berlioz' Requiem, 1837 als Auftragswerk des französischen Staates entstanden und jetzt erstmals in Bremen aufgeführt ist anders die anderen eindrucksvollen Totenmessen, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Seine monumentale Anlage mit zusätzlichen Blasorchestern die aus allen vier Himmelsrichtungen von der Höhe herunter schmettern, acht Paukenpaare, Riesenorchester, Riesenchor und nur einem Solotenor erscheint auf den ersten Blick als effekthascherische Übersteigerung der traditionellen Konzepte, die später in Verdis Requiem vollkommenen Ausdruck fanden. Je grandioser und gewalttätiger das Jüngste Gericht auf den Menschen einprasselt, um bewußter wird er sich seines gefährdeten Daseins als Erdenwurm. Je kleiner er ist, um dankbarer wird er, unerwartet in den Kreis der durch unfaßbare Gnade erlösten Seligen aufgenommen zu werden. Für Berlioz ist Gnade kein Geschenk. Schon im „Kyrie eleison“ wird Erbarmen nicht erfleht, sondern drängend gefordert. Die Ausbrüche von musikalischer Gewalt zerschlagen nicht. Je brutaler gebrüllt, geschmettert und getrommelt wird, um so erstaunlicher ist die Festigkeit und Selbstsicherheit mit der geantwortet wird auf diese Bedrohung durch kollektive Klangmassen.

Einem buntgewürfelten, internationalen Haufen – Domchor Bremen, Rigaer Kammerchor „Ave Sol“, Kammersinfonie Bremen, Academy Orchestra der Bremer Partnerstadt Toyama, Blechbläsern der Trompetenakademie Bremen und Royal Academy London und nicht zu vergessen des Goethetheaters lyrischer Tenor Mihai Zamfir – gelang unter des Domkantors Wolfgang Helbich inspirierter Stabführung eine Darbietung dieses Werkes von höchster musikalischer Intensität. Es war weniger die fast perfekt gelungene Organisation der spektakulären, die Schmerzgrenze überschreitenden musikalischen Tobsuchtsanfälle der ca 350 auf das äußerte geforderten Mitwirkenden, die beeindruckten: Es waren die leisen, zarten Töne des Schmerzes, des sich Wiederfindens, der Verarbeitung des Grauens, die sich nach dem Verebben des martialischen Getöses aus der Tiefe des Raumes lösten: Ein Pianissimoeinsatz der Tenöre, das präzise und beseelte Zusammenwirken vom Baß und tiefen Streichern, das Hörbarmachen delikater und kaum vorstellbarer Instrumentationsexperimente: Da haucht eine Flöte zart in höchsten Tönen, während die Posaune in der Ferne in schwärzesten Tiefen gräbt, ein Tenorsolo aus luftigen Höhen schwebt über leisen dumpfen Schlägen der großen Trommel begleitet von Zischeln des Beckens, etc. All dies „machte Eindruck“, worauf Berlioz stets größten Wert legte. Helbichs Dirigat arbeitet die „Effekte“ nicht nur präzise heraus, er verdeutlichte ihre dramaturgische und inhaltliche Funktion. So gerät ihm das Agnus Dei zu eindrucksvoller Bekräftigung der Konzeption des Werks, die dessen Ausnahmerang im Kreise der Totenmessen des 19. Jahrhunderts begründet. Nicht larmoyant in seliger Verklärung versinkend sondern gelassen, gefaßt, im Bewußtsein, der Mensch könne sich seine Erlösung selbst erarbeiten, klingt das Werk aus. Dies Requiem – den Schluß läßt diese Aufführung zu – ist eine Dokumentation eines Hoffnung machenden Prozesses menschlicher Emanzipation von außerirdischen und irdischen Gewalten.

Dies Werk im Dom so differenziert und seinen Kontrasten überwältigend hören zu können war auch Folge einer glücklichen Verteilung des Riesenapparates auf das Mittelschiff, die Empore und 2 Nebenkapellen, die zumindest für die Besucher im Nordschiff ungeahnte Klang- und Raumperspektiven eröffnete. Für diese nachhaltiges Konzerterlebnis dankte das Publikum ergriffen nicht ohne daß vereinzelt ratloses oder gar aggressives Schweigen zu konstatieren war. Mario Nitsche