: Das Öl war zuerst da
■ Nicht verbittert, aber ein bißchen wütend: Jazzsaxophonist Joe Henderson, seit 30 Jahren im Geschäft, aber erst seit drei Jahren wiederentdeckt, über alte Hasen, junge Löwen, smarten Krawattennadeljazz und sein wunder
Zwölf Jahre dauerte die selbstauferlegte Studiopause, dann kam das Jahr 1993 und mit ihm ein in der Jazzgeschichte bislang beispielloses Comeback. Joe Henderson, der Saxophonist, kam zurück und blieb, damals 55jährig, cool genug, um ganz nebenbei darauf zu verweisen, daß er bereits seit dreißig Jahren eigentlich nichts anderes mache, als Joe-Henderson-Musik zu spielen. 1992 und 1993 gewann er als erster Jazzmusiker überhaupt gleich zweimal hintereinander den „Triple Crown Award“ der amerikanischen Zeitschrift Down Beat, und zwar als „Jazz Artist Of The Year“, „Top Tenor Saxophonist“ und für seine beiden Konzeptplatten „Lush Life“ (1992) und „So Near, So Far“ (1993). Billboard kürte Henderson ebenfalls zum „Jazz Artist 1993“ und seine CD zum „Jazz Album of 1993“. Henderson gewann binnen zwei Jahren drei Grammies und sicherte sich auch 1994 wieder die Position als bester Tenorsaxophonist im Jazz. Sein gerade erschienenes drittes Konzeptalbum „Double Rainbow“ ist eine Hommage an den während der Produktion der CD verstorbenen brasilianischen Komponisten und Musiker Antonio Carlos Jobim. Joe Henderson lebt in San Francisco.
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Sind Sie wirklich ein Spätzünder? Oder hat der große Erfolg von Wynton Marsalis Ihre Wiederentdeckung möglich gemacht?
Überhaupt nicht. Ich möchte anmerken, daß ich Wynton Marsalis mal für eine meiner Plattenaufnahmen engagierte, und er tat dasselbe mit mir. Er hat die Macht, jederzeit die Aufmerksamkeit der Presse zu bekommen. Und die hat er genutzt, um Musiker zu promoten, von denen er meinte, daß sie mehr Anerkennung verdienen. Aber mehr als diese Macht möchte ich ihm nicht zusprechen. Alles, was er promoted, war schon da, bevor er kam. In Amerika gibt es eine Lücke im kulturellen Gedächtnis. Nur wenige wissen, was wer geleistet hat. Sie sehen Marsalis und denken, sie wüßten auf einmal alles. Aber ich mache seit 1963 Platten, manchmal drei bis vier pro Jahr, manchmal sogar noch mehr. Das sind Dokumente, auf denen noch vieles enthalten ist, was bislang kaum wer gehört hat. Marsalis nutzt diese Lücke. Das erinnert mich an das erste Ölembargo im Mittleren Osten. Die Leute gingen seit Jahren über Öl, aber jetzt erst erfuhren sie, was für ein Wert in ihrem Boden verborgen war. Sie brauchten das Öl nicht. Aber als sie merkten, daß die Industrienationen es brauchten, machten sie Gold daraus. Aber das Öl war zuerst da.
Ist die Presse mal wieder schuld?
Ich bin seit Jahrzehnten auf der Szene. Aber vor drei Jahren entdeckte man mich erst. Ist doch eigenartig, oder? Das ist schon der Fehler der sogenannten Intelligenz, die über Jazz schreibt und so tut, als wüßte sie alles über unsere Kunst. Und plötzlich stellt sich heraus, daß sie sich in ihrer selbstkonstruierten Welt nicht mehr auskennt. Wenn ich mir die Jazz-Presselandschaft anschaue, muß ich feststellen, daß in der Regel die falschen Leute Aufmerksamkeit und Stories bekommen. Ich soll also jetzt dankbar sein? Wofür denn? Dafür daß man mich übersah? Ich habe jedenfalls nie für Grants, Grammies und Trophäen gespielt. Und werde es auch in Zukunft nicht tun. Ich denke, daß diese dickaufgetragene Wiederentdeckung von Joe Henderson zu sehr nach Entschuldigung riecht. Da respektiere ich viel mehr die Fans, die mir in all den Jahren treu waren. Die Kritiker kennen sich nicht aus in unserer Welt, das ist doch die eigentliche Message. Können Ohren dumm sein? Wie kann man denn überhaupt binnen so kurzer Zeit drei Grammies gewinnen? Natürlich bin ich auch stolz darauf. Ich bin glücklich, daß es all die Platten von mir gibt. Ich wohne immer noch im gleichen Haus, finanziell geht es mir ganz gut, es gibt ein paar mehr Gigs als früher und einige Möglichkeiten, die ich vorher nicht hatte. Sauer sollten die sein, die ihre Zeit damit verschwendet haben, sich an den Kritikern zu orientieren. Statt uns zuzuhören.
Sie spielen auf den Schmalspurjazz im Zeichen von Jugendkult und Facelifting an?
Ja, wenn ich allein an die sogenannte Jugendbewegung im Jazz der letzten Dekade denke, wird mir ganz anders. Okay, Amerika war schon immer sehr anfällig für alles, was nach Jugend riecht. Aber was wissen die Jugendlichen schon? Nichts! Bis auf ganz wenige Ausnahmen in der Jazzgeschichte, die, gemesssen an ihrem Talent, vielen Alten was voraushatten. Ich war mit Lee Morgan zusammen, als er begann. Er war damals 17, und ich habe nie wieder einen so Trompete spielen gehört. Ich habe Booker Little gehört. Er starb mit 23 Jahren. Aber als die Plattenfirmen und Kritiker mit dem Young- Lions-Ding kamen, ging es doch nur um Hype. Um nette Jungs in schicken Anzügen, die sich gut auf den Titelseiten machen. Aber man kann den nächsten Gott, den nächsten Einstein nicht herbeireden. Ich bin bis heute überrascht, wie das Publikum diese sogenannte Jazz-Youngsterbewegung überhaupt hat ertragen können. Und wie die Plattenfirmen miteinander konspirierten, um diese Jungs zu puschen. Die haben doch nicht mal genug Tankfüllung, um aus der Toreinfahrt zu fahren, geschweige denn die Rennpiste überhaupt zu erreichen. Was ist zum Beispiel mit Benny Carter? Der Mann ist mittlerweile 87 Jahre alt und immer noch eine bedeutendere Kraft auf der Szene als alle diese Youngsters zusammengenommen.
Wem bringt es denn was, wenn Wynton Marsalis als der größte Trompeter des Jazz gepriesen wird? Dem Publikum, das die Platten von Louis Armstrong, Clifford Brown, Miles Davis, Dizzy Gillespie und Kenny Dorham zu Hause hat, etwa? Wem will man das erzählen? Ohne Frage ist Wynton unheimlich talentiert und engagiert. Aber gib ihm doch mal zehn Jahre, damit er das auch alles entwickeln kann. Eigentlich ist das, was sie mit ihm veranstalten, nämlich eine ziemlich traurige Geschichte. Denn der nächste Wynton sitzt doch schon in den Startlöchern. Und ich hoffe, daß er auch dann noch die Kraft hat, wenn er nicht mehr der Größte ist, sondern einfach nur Wynton, ein Jazztrompeter. Als klassischer Trompeter ist er sicherlich einer der besten. Das haben mir selbst klassische Trompeter bestätigt, die auf eine 50jährige Berufserfahrung zurückblicken. Aber das ist eben etwas anderes als im Jazz.
Die Sechziger sind passé, die Experimente der Linken gescheitert — das ist die Message der konservativen Kulturrevolutionäre in den neunziger Jahren. Wie steht es da um den schwarzen Fortschritt, den Sie einst erhofft haben?
Das ist eine heikle Frage. Wenn ich an die Sechziger zurückdenke, an die Avantgardebewegung, an Albert Ayler, Sunny Murray und natürlich an Godfather Ornette Coleman, habe ich das Gefühl, daß diese Tradition mehr oder weniger von der Szene verschwunden ist. Was geschah mit diesem künstlerischen Ansatz, den viele zu seiner Zeit nicht verstanden? Was geschah mit all den Künstlern, die mit dem ESP-Label assoziiert waren? Haben sie das Handtuch geschmissen, nachdem sie ihre musikalischen und verbalen Statements gemacht hatten? Ich meine nicht, daß auch nur einer dieser Leute mit Charlie Parker in einem Atemzug genannt werden könnte. Aber daß es Raum braucht für ikonoklastische Experimente jener Art. Und man sollte bedenken und würdigen, daß diese Leute sehr einflußreich waren. Ich höre das bei Trane und auch bei Sonny Rollins. Ich selbst bin ja eher in der Tradition zu Hause. Aber die ist ja heute zu einem sicheren Ort geworden.
Das Abseits war einst ein sicherer Ort des Jazz. Nun kommen Sie auch noch mit dem Traditionsgetue.
Diese krawattige Sicherheit und Bequemlichkeit habe ich aber nie damit gemeint. Nach Monks Tod ist die Suche nach dem Unbekannten, jene unorthodoxe Art mit der Tradition zu spielen, auf der Strecke geblieben. Ich finde es jedenfalls langweilig, immer nur auf sicher zu spielen. Ich fühle einen Teil in mir, der nicht wissen will, was ich als nächstes sagen oder spielen werde. Aber ich sehe heute nicht den Raum, diesem Teil Gehör zu verschaffen.
Was ist der Preis für den späten Ruhm? Macht die Last der Erfahrung träge?
Die Tradition ist immer exklusiv. Das ist ihre Natur. Aber es gibt Dinge außerhalb dieser Arena. Ja, es stimmt, ich bin müde, dieselben Stücke immer und immer wieder zu spielen. Ich möchte Neues ausprobieren, nicht die alten Früchte nochmal und nochmal auspressen.
Soll der afroamerikanische Künstler seiner Community verpflichtet sein, wie Amiri Baraka das sah?
Als ich in New York lebte, gab es eine starke Community. Es gab auch die Notwendigkeit, sich zusammenzuschließen. Aber das hatte nichts mit den Kommunen zu tun, die sich zu der Zeit bildeten. Leute, die aufs Land gingen und Lebensgemeinschaften gründeten, die ohne Elektrizität auskommen. Ich weiß nicht, wie mein Leben ohne Elektrizität verlaufen wäre. Ohne Radio, ohne Verstärker.
Die Jazzsängerin Betty Carter beschwert sich schon seit Jahren über den Verlust der Musik-Community.
Sie hat recht. Ich habe das als junger Mann ja selbst noch erlebt. Früher konnte man einen Musiker erkennen, an der Art sich zu kleiden, seiner Gestik, der Art sich auszudrücken. Heute kommt einer, der aussieht wie ein technischer Angestellter, und später auf der Bühne stellt man dann fest, daß das der Trompeter ist. Ich kann nicht beurteilen, ob das nun besser oder schlechter ist, als es früher einmal war. Oder ob es einfach nur ein Anzeichen dafür ist, daß wir älter wurden und etwas vermissen.
Was vermissen Sie denn?
Die Black Community, die wir kannten, gibt es nicht mehr. Das ist gewiß. Aber ich habe mich auch geändert. Ich bin gewohnt, daß sich die Dinge ändern. Warum sollte ich denn erwarten, daß die Gesellschaft es nicht tut? Es berührt mich nicht negativ, wenn Betty der alten Community nachtrauert. Aber ich liebe es, neue Orte kennenzulernen und neue Sprachen zu hören.
Was bedeutet „Great Black Music“ für Sie heute?
Ich wurde durch die Freiheitsbewegung in den sechziger Jahren sehr stark politisiert. Und ich wählte entsprechende Titel für meine Platten wie „Power to the People“ und „Black is the Color“. Ich bemühte mich, mit diesen Titeln eine soziopolitische Aussage zu machen. Ich wollte mit meiner Musik an dem gesellschaftlichen Krieg teilnehmen, Position beziehen. „Black Narcissus“, „Afrocentric“ und „If you are not Part of the Solution, you are Part of the Problem“ waren meine Widmungen an den Kampf des afroamerikanischen Volkes.
Der Gedanke war, daß, wenn die Musik schon ohne Gesang und Worte ist, dann sollte zumindest der Titel, den der DJ oder Radiomoderator ansagen mußte, ein Statement beinhalten. Ich wollte meine afrikanischen Wurzeln in meiner Musik besonders herausstellen. Ohne die Reinheit der Musik zu unterlaufen. Es ging mir nicht um politische Kunst in dem Sinne, wie die Sozialisten Kunst funktionaliserten. Ich war damals sehr von den Schriften Amiri Barakas und Eldrige Cleavers beeinflußt. Wenn ich zurückblicke, denke ich, daß wir einiges bewirkt haben. Vor allem haben wir die Leute gezwungen, endlich einmal darüber nachzudenken, was in unserer Gesellschaft alles schief läuft. Ich bin mir allerdings nicht ganz sicher, was sich seit einigen Jahren in Amerika anbahnt. Dieser extreme Konservativismus weist in eine schlimme Zukunft. Wir müssen wachsam sein. Interview: Christian Broecking
Joe Henderson spielt am 8. Juli in Berlin im Rahmen von „Jazz across the border“, am 15. Juli in Den Haag (North Sea Jazz Festival) und am 18. Juli in Montreux.
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