Das karibische Wunder

Mehr als 14.000 Kinder, Opfer der Atomkatastrophe in Tschernobyl, werden seit 1990 in Kuba gepflegt. Die Behandlung ist völlig kostenlos  ■ Aus Tarara M. Bermejo und H. Kuhn

Braungebrannte Jungen balgen sich um einen Ball, vom Süden her, wo die Drähte der alten Seilbahn die kleine Bucht mit den Bougainvillea-Büschen bis zum Vergnügungspark überziehen, weht ein warmer Wind. Im Schatten der Kokospalmen sitzt ein kleines Mädchen und liest. Tarara, die einstige Pionierstadt „José Marti“ an der Florida-Straße Kubas, ist ein karibisches Kinderparadies.

Doch der Schein trügt. Das kleine Mädchen, das die Promenadenmischung auf ihrem Schoß über alles liebt, ist schwer krank. Ihr Herz ist durch die Auswirkungen radioaktiver Strahlung schwer beschädigt, ihr Knochenmark mußte transplantiert werden. Dann kam Hepatitis hinzu. Das Wachstum wurde unterbrochen, und für eine Weile hatten die kubanischen Ärzte sie schon beinahe aufgegeben. Doch dann half ihr das „karibische Wunder“, auf das die Eltern aller Kinder hoffen, die jetzt am Strand von Tarara spielen: Lena Lievjak aus Moskau hat überlebt.

Zum Zeitpunkt des Unglücks besuchte Lena ihre Großeltern in einem Dorf bei Kiew. Im Oktober 1990 kam sie mit einer Aeroflot- Maschine aus Moskau nach Tarara. Seither behandelten die stellvertretende Direktorin im Camp der Pionierstadt, Dr. Rhode Yera, und ihre Ärztekollegen insgesamt 13.000 minderjährige und rund 2.000 erwachsene Opfer des atomaren GAU – kostenlos.

Gerade ist wieder ein Flugzeug aus der Ukraine gelandet. Mit zwei Wochen Verspätung, wie die meisten der Transporte. Das Gedränge um den Flug in die karibische Hoffnung ist groß: Wer darf diesmal mit? Wer muß warten? Die Entscheidung fällt schwer. Über 2,6 Millionen Menschen haben Schäden davongetragen, seit am 26. April 1986 ein defekter Reaktor in Tschernobyl den GAU auslöste, so Alexander Taranenko, der ukrainische Botschafter in Havanna.

Am 26. März 1990 trafen auf Vorschlag der kubanischen Regierung die ersten 160 ukrainischen Patienten in Havanna ein. Bis 1994 waren noch Weißrußland, das 246 Kinder nach Tarara schickte, sowie 2.645 Strahlenkranke aus Rußland am stetig wachsenden Programm beteiligt. Jetzt erhielt Kuba eine amtliche Mitteilung der beiden Teilrepubliken: „Bedarf gedeckt“. Zwar mußten die einstigen sozialistischen Brüder lediglich die Flugkosten übernehmen, aber auch das war offenbar zuviel.

Für Kuba bedeutet die Betreuung der Kinder eine gewaltige Anstrengung. Über 500 Ärzte, Techniker und Krankenschwestern sowie rund 1.000 Arbeiter und Angestellte arbeiten in Tarara. Sie halten die 521 Häuser instand, führen das Hospital, Speisesäle, Küchen, Sportstätten, den Vergnügungspark und eine Schule, in der die Kinder auch in ihrer Heimatsprache unterrichtet werden.

Lediglich elf der rund 15.000 in Kuba behandelten Patienten erlagen bisher ihren Erkrankungen. Schwere Fälle wurden über die gesamte Insel verteilt in die jeweiligen Spezialkliniken überführt, wie etwa in das Immunologische und Hämatologische Institut, das allein 119 Fälle von Leukämie registrierte. Siebenmal transplantierten die kubanischen Spezialisten Knochenmark, zweimal eine Niere. „Immer erfolgreich“, rühmt Dr. Rhode Yera die Leistungen ihrer Kollegen. Ist die stationäre Behandlung abgeschlossen, kommen die Kinder nach Tarara zur Pflege. „Leichte Fälle bleiben sechs bis acht Wochen hier“, sagt Dr. Yera. „Schwere, wie Lena, Jahre“. Tägliche Untersuchungen, Medikamentierung oder die Behebung oft fürchterlicher Zahnschäden bilden den Alltag.

Einige tausend Meter abseits verbrennen sich die Badegäste der staatlichen Tourismusfirma „Tarara“ ihre Bäuche in der Mittagssonne. Niemand dort nimmt die Sirene wahr, die jetzt im Camp der kranken Kinder ertönt. Am Strand nimmt Lena ihr Buch und den Hund unter den Arm und geht hinüber zum Speisesaal. Eine andere Schicht begibt sich von dort bereits zur Mittagsruhe. Unter den Seilbahndrähten raufen die Jungen mit einer stämmigen Pflegerin, die sie schon zum Saal hintreiben will. „Ihr beiden gehört jetzt mir“, sagt sie zu zwei Knaben, „ihr habt mir das Fußballspielen beigebracht.“