Die verlorenen Jahre der algerischen Kabylei

■ Im Krieg zwischen Regime und Islamisten sind Algeriens Berber zwischen die Fronten geraten / Schüler und Studenten boykottieren seit mehr als einem Jahr die Lehranstalten

Tizi Ouzo (taz) – Aknin ist 18 Jahre alt. Bis zum Beginn des letzten Schuljahres vor einem Jahr hatte er die Hoffnung, Abitur zu machen und anschließend zu studieren. Er wollte Ingenieur werden. Trotz der Gewalt, die das Land seit mittlerweile über drei Jahren erschüttert, war er entschlossen, seinen Traum zu verwirklichen. Aber anstatt auf der Schulbank zu sitzen, verbringt Aknin die meisten seiner Tage im Stadtzentrum von Tizi Ouzo. In den Straßen der Hauptstadt der von Berbern bewohnten Kabylei verkauft er Zigaretten und raucht dabei selbst jede Menge von seiner Ware.

„Es war ein verlorenes Jahr“, sagt Aknin mit bebender Stimme. Sein schmächtiger Körper zittert, als er die letzten Züge einer Zigarette inhaliert und die Kippe mit dem Fuß ausdrückt. „Die Berberorganisationen haben uns aufgefordert, Schulen und Universitäten zu boykottieren“, erklärt er. Tausende SchülerInnen und StudentInnen seien daraufhin Unterricht und Vorlesungen ferngeblieben. „Schau, der Typ, der dahinten Nüsse verkauft, ist ein Schulkamerad von mir. Und der dort mit Jeans und T-Shirts handelt, auch.“ Einige seiner Schulkameraden seien zur Armee gegangen, und wieder andere seien jetzt „in den Bergen“. In Algerien bedeutet letzteres, daß sich jemand den militanten Islamisten der „Bewaffneten Islamischen Gruppen“ (GIA) angeschlossen hat oder der mit ihnen rivalisierenden „Armee des Islamischen Heils“ (AIS), dem bewaffneten Arm der „Islamischen Heilsfront“ (FIS). Seit im Dezember 1991 die ersten freien Wahlen Algeriens abgebrochen wurden, führen Islamisten einen „Heiligen Krieg“ gegen das Regime.

Das 200.000 EinwohnerInnen zählende Tizi Ouzo ist die kulturelle und politische Metropole der algerischen Berber. In der 100 Kilometer von der Hauptstadt Algier entfernten Stadt haben fast alle Organisationen und Parteien der Berber ihren Sitz. Ein paar hundert Meter von der Stelle entfernt, an der Aknin Zigaretten verkauft, residiert die „Berberische Kulturbewegung“ (MCB). Ein ehemaliges Theater beherbergt die Zentrale der Organisation. In dem Gebäude findet man neben Mitgliedern und Angestellten jede Menge Menschen, die einfach so herumlungern. Es sind Arbeitslose, Schüler und Studenten, die viele Stunden ihrer Tage hier verbringen. So schlagen sie die Zeit tot und bekunden gleichzeitig ihre Solidarität mit der Organisation.

„Die Wurzeln unserer Bewegung liegen in den 60er Jahren“, erklärt Said. Der 40jährige Journalist ist ein langjähriger Aktivist der MCB. Die Gründung der Organisation sei aber erst 1980 verkündet worden, offiziell genehmigt worden ist sie bis heute nicht. „Bei uns sind alle politischen Strömungen vertreten, Linke wie Rechte“, sagt er in gebrochenem Arabisch. „Unser Ziel ist es, unsere Kultur und unsere Sprache, das Tamazight, zu schützen.“ Die MCB sei keine „Organisation von Separatisten“, nicht einmal eine „Autonomie“ wolle sie durchsetzen, erläutert Said. „Wir werden diskriminiert, und dagegen kämpfen wir.“

Die „Amaziegh“, wie sich die Berber selbst nennen, sind so etwas wie die „Ureinwohner“ Algeriens. Ihre Vorfahren lebten in der Region, lange bevor die arabischen Heerscharen im siebten Jahrhundert aus dem Osten kamen und den Islam und die arabische Sprache einführten. Heute versteht sich etwa ein Drittel der 25 Millionen AlgerierInnen als BerberInnen. Seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1962 kämpfen sie um den Schutz ihrer Identität.

Als die algerische Regierung damals eine rigide Arabisierungskampagne anordnete, kam es zum Aufstand. 350.000 BerberInnen starben, als die Zentralgewalt Truppen in die Berbergebiete schickte. Berberorganisationen wurden anschließend verboten, ihre Aktivisten verfolgt. Seither betonten sämtliche Regierungen den „arabischen Charakter“ des Landes. Die BerberInnen hielten dagegen daran fest, daß es in Algerien neben der arabischen auch eine berberische Kultur gebe.

„Wir haben aus unseren Erfahrungen gelernt“, meint Said. „Wir werden nur noch auf politischem Wege für unsere Rechte kämpfen.“ Als sie gemerkt hätten, daß auch das derzeitige Regime sämtliche zentralen Forderungen der Berber ignoriere, habe sich die Berberbewegung zu dem Boykottaufruf entschlossen. SchülerInnen und StudentInnen sollten keine Institutionen mehr besuchen, in denen ihnen der Unterricht ihrer Sprache und Kultur verwehrt werde. Die algerische Führung habe daraufhin alles mögliche unternommen, um den Boykott zum Scheitern zu bringen. Regimetreue Berber hätten gezielt Einfluß auf Stämme und Familien genommen; in manchen Städten und Dörfern hätten Soldaten die Kinder und Jugendlichen gezwungen, zum Unterricht zu gehen.

Aber nichtsdestotrotz habe sich die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen dem Boykott angeschlossen. Die größte Bedrohung für die berberische Bewegung schien zeitweilig aus ihren eigenen Reihen zu kommen. Ende März erklärten Vertreter des Regimes, sie hätten ein Abkommen mit einer Berberfraktion geschlossen, dem „Nationalen Koordinierungsausschuß“ um Farhat Mahani. Demnach solle in den Berbergebieten und dort, wo größere Minderheiten der Bevölkerungsgruppe leben, künftig an Universitäten und Schulen Tamazight unterrichtet werden. In diesen Gegenden sollten zudem in Radio und Fernsehen berberische Programme ausgestrahlt werden. Im Gegenzug rief der „Nationale Koordinierungsausschuß“ zur Beendigung des Boykotts auf.

Die stärkste Gruppierung der Berberbewegung, die „Front der sozialistischen Kräfte“ (FFS) um Ait Ahmed, lehnte das Abkommen strikt ab. „Zum einen hat der „Nationale Koordinierungsausschuß“ unter den Berbern keinen großen Einfluß. Zum anderen hat er vor Abschluß des Abkommens mit keiner anderen Organisation darüber diskutiert“, erklärt Malik, ein führender Aktivist der FFS in Tizi Ouzo, die Position seiner Partei zu dem Abkommen. Der „Nationale Koordinierungsausschuß“ wurde von der „Versammlung für Demokratie und Kultur“ (RCD) gegründet, der Partei des prominenten Berbers Said Saadi. Die RCD entstand 1989 als Abspaltung von der FFS. Viele BerberInnen werfen Saadi vor, zu enge Kontakte zum Regime zu unterhalten und sogar von diesem unterstützt zu werden.

„Das Abkommen war ein Manöver des Militärs“, meint Malik. „Durch angebliche Konzessionen wollten sie die Unterstützung der Berber für Präsidentschaftswahlen bekommen.“ Die algerische Führung um Präsident Liamine Zeroual hat mehrfach angeboten, noch vor Ende des Jahres einen neuen Präsidenten wählen zu lassen. Die meisten Oppositionsparteien lehnen dies ab und fordern statt dessen eine Neuauflage der abgebrochenen Parlamentswahlen. „Das Regime will die Berber gegen die Opposition und die Islamisten instrumentalisieren“, meint Malik. Unter der Bevölkerung mache sich Furcht vor weiteren innerberberischen Konflikten breit, die vor allem der algerischen Zentralgewalt nützen. „Wir haben deshalb in allen Berberprovinzen ,Nationale Komitees‘ gegründet, in denen alle Organisationen und zahlreiche Einzelpersonen vertreten sind. Die haben ganz demokratisch entschieden, den Boykott weiterzuführen.“

Im Krieg zwischen Islamisten und Regime sitzen die BerberInnen regelrecht zwischen den Fronten. Die Parolen der Islamisten, wonach Algerien ein islamisches und arabisches Land sei, richten sich auch gegen eine berberische Identität. Die RCD hat sich deshalb darauf eingelassen, in einigen Dörfern und Städten gemeinsam mit dem algerischen Militär bewaffnete Truppen aufzustellen. Die FFS favorisiert dagegen einen Dialog mit den Islamisten. Im Februar unterzeichneten Vertreter der FFS in Rom gemeinsam mit anderen algerischen Oppositionsgruppen und der FIS einen „Nationalen Vertrag“. Darin respektiert die FIS erstmals die „multikulturelle Identität“ Algeriens. „Der Vertrag hat die Mehrheit der Berber beruhigt“, meint Malik. Aber die Politik des Regimes, das Abkommen schlichtweg zu ignorieren, habe Hoffnungen wieder getrübt. „Wenn es so weitergeht wie jetzt, stehen uns noch einige verlorene Jahre bevor“, seufzt Malik. Kadir Bouabied