■ Wiktor Schejnis über Rußlands Krise nach Budjonnowsk
: Der Schock ist nicht groß genug

Wiktor Schejnis, 64 Jahre, Mitglied der liberalen Jabloko-Fraktion in der Duma, ist einer der Veteranen der russischen Bürgerrechtsbewegung und Mitbegründer der Bewegung „Demokratisches Rußland“. 1953 wurde er von der Universität religiert, weil er gegen die sowjetische Intervention in Ungarn protestiert hatte. 25 Jahre später fand er sich als Professor im „Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen“ der Akademie der Wissenschaften wieder. Heute ist Schejnis Mitglied der Duma-Kommission für Gesetzgebung und Rechtsreform.

taz: Die russische Gesellschaft befindet sich heute an einem Wendepunkt. Bedurfte es wirklich des Terroranschlages von Budjonnowsk, damit es in Grosny zu Friedensverhandlungen und in Moskau zur Verfassungskrise kam?

Wiktor Schejnis: Budjonnowsk war eine sehr wichtige Episode, aber nicht die Ursache für unsere sich vertiefende Krise. Es war nur eine ihrer Erscheinungsformen und dazu eine logische Folge des Tschetschenien-Krieges. Der Umschwung in der öffentlichen Meinung begann im Dezember vorigen Jahres. Zwar gab es schon länger die Tendenz, daß sich die Demokraten jeder Couleur und der von ihnen hervorgebrachte Präsident Jelzin samt seiner Umgebung entfremden, aber als im Dezember der Krieg in Tschetschenien begann, wurde der Spalt zwischen ihnen zu einer Schlucht.

Nach Kriegsbeginn hat die demokratische Öffentlichkeit jedoch lange stillgehalten.

Leider hat der Tschetschenien- Krieg nicht nur die verbrecherische Politik verschiedener militärischer Instanzen offenbart, sondern auch die Schwäche des Parlamentes und der Institutionen unserer civil society. Unsere Gesellschaft hatte begonnen, sich an das zu gewöhnen, woran man sich unter keinen Umständen gewöhnen darf. Budjonnowsk wirkte da wie ein Schock. Ich bezweifle, daß dieser Schock stark genug ist, um uns vom Kriegspfad abzubringen.

In dieser Hinsicht hat mich am Dienstag die Pressekonferenz des stellvertretenden Innenministers Michail Jegorow beunruhigt (nicht zu verwechseln mit dem zurückgetretenen Nationalitätenminister Nikolai Jegorow, d. Red.). Er hat es da als Fehler bezeichnet, daß das Krankenhaus in Budjonnowsk nicht gestürmt worden ist. Er wäre also bereit gewesen, für den militärischen Sieg über ein Häufchen Banditen, Hunderte friedlicher BürgerInnen zu opfern. Es ist ungeheuerlich, daß sich solche Leute an den Hebeln der Macht befinden.

Jegorow sagte auch, daß Ministerpräsident Tschernomyrdin den Befehl zum Sturm des Krankenhauses gegeben habe.

Er sagte genau, der Befehl sei von drei Leuten erteilt worden und deutete damit auf Tschernomyrdin hin. Der Premier war völlig überrascht, als ihn Journalisten mit dieser Aussage konfrontiert haben. Ich weiß nicht, ob Jegorow die Wahrheit gesagt hat. Ich bin in diesem Fall eher geneigt, Wiktor Tschernomyrdin zu glauben. Außerdem möchte ich an Jelzins Erklärung in Halifax erinnern: Er habe mit dem Innenminister abgesprochen, daß gestürmt werde.

Welche Konsequenzen wird Ihre Fraktion daraus ziehen?

Wir haben schwerwiegende Kritik an der Regierung vorzubringen. Aber angesichts der gegebenen Situation haben wir es nicht für nötig gehalten, sie bis zum letzten Mann in den Ruhestand zu schicken. Darüberhinaus schätzen wir die Tätigkeit des Premierministers und seine Haltung auf dem Höhepunkt der Krise von Budjonnowsk positiv ein. Aber wir haben es für unbedingt notwendig gehalten, die Machtminister zu entlassen, die für den Krieg insgesamt und für die Vorgänge in Budjonnowsk insbesondere verantwortlich sind.

Was halten Sie vom Impeachment gegen den Präsidenten?

Unsere Fraktion ist im Moment dagegen, obwohl es wirklich besser wäre, wenn wir den Präsidenten und nicht die Regierung zum Abdanken brächten. Die Verantwortung für den Krieg in Tschetschenien trägt Jelzin. Aber in der jetzigen Situation können wir uns soviel Instabilität im Staat nicht leisten: eine Regierung, der einmal das Mißtrauen ausgesprochen wurde, ein Präsident, gegen den ein Impeachment-Verfahren läuft und dazu möglicherweise auch noch eine aufgelöste Duma.

Stabilität in Moskau ist natürlich auch notwendig, damit die Verhandlungen in Grosny weitergehen. Hat der Frieden in Tschetschenien wirklich eine Chance?

Ich glaube, es gibt eine Chance. Aber ich weiß nicht, wie groß sie ist, weil zu viel hinter den Kulisssen gespielt wird. Bisher hat die russische Delegation eine relativ ausgewogene Position eingenommen.

Da gibt es wieder so eine widersprüchliche Formulierung, wo es um die Wahlen in Tschetschenien geht. Einerseits sollen sie „demokratisch“ sein und gleichzeitig legt man Quoten für die Stellvertreter Dudajews und der von Moskau eingesetzten provisorischen Regierung Hadschijews in den Parlamenten fest. Das erinnert stark an Michail Gorbatschow, der seinerzeit demokratische Wahlen für die Sowjets einführen wollte, aber gleichzeitig festlegte, daß deren Deputierte der KPdSU und ihren Massenorganisationen angehören mußten. Bekanntlich hat sich das nicht bewährt.

Es ist eine sehr schwere Aufgabe, dort die Voraussetzungen für irgendwelche Wahlen zu schaffen. Zur Zeit gibt es in Tschetschenien keinerlei legitime Macht, weder Dudajews noch Hadschijews Leute kann man als solche bezeichnen. Jetzt müssen erst einmal die illegitimen Machthaber durch Wahlen in legitime umgewandelt werden. Wie sonst kann man garantieren, daß die Wahlen fair verlaufen? Ich habe im April in Tschetschenien sowohl mit Dudajews Generalstabschef Moschadow als auch mit Hadschijew gesprochen. Und beide sagten mir: Wahlen ja, aber nicht vor den Mündungen von Maschinengewehren. Jeder meinte damit die Maschinengewehre der Gegenseite.

Wer soll in einer solchen Atmosphäre ein Wahlgesetz verabschieden? Wer garantiert, daß die kämpfenden Parteien, wenn sie mit dem Ausgang der Wahlen unzufrieden sind, nicht weiter Krieg führen? Also lieber erst mal provisorische Wahlen als Voraussetzung für spätere echte.

Bei den Verhandlungen in Grosny und in Moskau zeigt sich die Spaltung zwischen russischen Politikern und Militärs. Dieser Tage war in Moskau davon die Rede, daß sich die Militärs in dem Maße, in dem sich die Gesellschaft von ihnen abwendet, verselbständigen und die Politiker davonjagen könnten.

Eine solche Entwicklung kann ich nicht ausschließen, aber dies wäre eine tragische Wende, die mehr als ein neues Budjonnowsk nach sich zöge. Dies bedeutete den Bürgerkrieg – dann im ganzen Land. Interview Barbara Kerneck,

Moskau