Eine starke, von den USA unabhängige Abschreckung

■ Interview mit Jean-Pierre Chevènement, in der Ära Mitterrand sozialistischer Verteidigungsminister, über Chiracs Entscheidung, die Atomtests wiederaufzunehmen

Jean-Pierre Chevènement, 55, trat aus Protest gegen den Golfkrieg 1990 als Verteidigungsminister zurück und verließ die Sozialistische Partei. Ein Jahr später gründete der mehrfache Ex-Minister und langjährige Weggefährte François Mitterrands mit anderen Ex-Sozialisten die „Bürgerbewegung“.

taz: In Deutschland hält man Sie für einen Pazifisten, seit Sie wegen des Golfkriegs als Verteidigungsminister zurücktraten. Jetzt rechtfertigen Sie die französischen Atomtests. Was sind Sie?

Chevènement: Ich bin kein Pazifist. Ich bin zutiefst friedliebend. Zurückgetreten bin ich, weil mir der Golfkrieg viel zu weit ging. Er hatte das Ziel, den Irak zu zerstören und ihn zu kontrollieren. Weil das ein Land ist, dessen Erdölvorräte fast so groß sind wie die von Saudi-Arabien. Und vor allem befürchtete ich, daß der Krieg den Integrismus in der gesamten muslimischen Welt verstärken würde. Aber ich bin kein Pazifist in dem Sinne, daß mir der Frieden mehr wert ist als alles andere.

Kaum hatte der neogaullistische Präsident Chirac gesagt, er möchte die Atomtests wieder aufnehmen, begrüßten Sie, der Oppositionelle, diese Entscheidung.

Was heute für die Franzosen gilt, kann morgen auch für die Europäer insgesamt gelten: daß Abschreckung Frieden ist. Atomwaffen sind nicht dazu gemacht, benutzt zu werden, sie haben das Ziel, Angreifer abzuschrecken. Die Abschreckung ist zugleich die Voraussetzung für eine gewisse Unabhängigkeit der Diplomatie. Wenn Sie letztendlich auf den Schutz der USA vertrauen müssen, sind Sie nicht unabhängig.

Vor ein paar Jahren begründeten Sie die Notwendigkeit der Force de frappe noch mit der sowjetischen Drohung.

Es gibt dieses beeindruckende nukleare Potential immer noch, wahrscheinlich über 6.000 Sprengköpfe. Ich weiß nicht, wie Rußlands Zukunft aussieht. Wir müssen alles dafür tun, damit Rußland zur Stabilität zurückfindet. Wir haben eine große Unsicherheit im Osten, und in Verteidigungsfragen muß man in der Größenordnung von 20 Jahren denken.

Also kommt die Bedrohung immer noch aus dem Osten?

Nein, es gibt keine Bedrohung. Aber das europäische Gleichgewicht braucht, damit es stabil ist, auch im Westen eine Abschreckung, die stark genug ist.

Warum wollen Sie diese Aufgabe nicht der Nato überlassen?

Weil wir Europa sind. Wenn wir den Amerikanern diese Rolle geben, haben wir ein amerikanisches Europa. Das will Frankreich nicht.

Wenn es um Europa ginge, müßte die Entscheidung über Atomtests doch gemeinsam gefällt werden ...

Ich gehe davon aus, daß unsere wichtigsten Partner konsultiert worden sind. Aber es ist schwierig, so etwas von der Zustimmung Dänemarks abhängig zu machen. Außerdem sollte man die Tragweite dieser Entscheidung nicht übertreiben. Es sind physikalische Experimente im Basalt – 800 Meter unter dem Atoll von Mururoa. Sie haben ein zweifaches Ziel: Erstens weiß man nicht genug über den Alterungsprozeß von Atombomben; man kann nicht auf eine Waffe vertrauen, die 20 Jahre alt ist. Zweitens hat Frankreich 1992 die Atomtests ausgesetzt, als es noch nicht die Mittel für eine Simulation hatte. Zudem sind es Experimente, die nicht die geringste Auswirkung auf die Umwelt haben.

Verstehen Sie die Zahl und die Eile bei den Atomtests?

Ob wirklich acht Tests nötig sind, weiß ich nicht. Ich habe auch gehört, daß zehn verlangt worden sind. Die Anzahl ist das Ergebnis einer Abwägung zwischen Physikern des „Commissariat d'Energie Atomique“ und politischen Überlegungen, besonders jener, daß Frankreich 1996 den Atomteststoppvertrag unterzeichen will. Da blieb nur ein sehr enges Fenster.

Chirac sagt, er will zu einem weltweiten Atomteststopp kommen. Aber erreicht hat er mit seiner Ankündigung, daß nun auch die USA eine Wiederaufnahme ihrer Tests erwägen.

In allen Verteidigungsministerien und in allen nuklearen Komplexen gibt es den Wunsch, die Tests weiterzuführen, um die Verläßlichkeit der Waffen zu erproben. Man könnte sich eine Weltagentur vorstellen, die die Alterung von Atomwaffen prüft.

Auch kleinere Länder könnten sich jetzt ermuntert fühlen, Atomtests durchzuführen ...

Keines ist in der Lage, das zu tun. Indien hat seine 1974 abgebrochen. Im übrigen wäre es auch nicht schockierend, wenn Indien über ein paar Atomwaffen verfügen würde, wenn Pakistan welche hat. Das Problem wäre Indien, Pakistan, China. Dann muß man verfolgen, wie sich die Dinge in Indonesien entwickeln. Wenn Länder neuerdings Zugang zu Atomwaffen haben, handelt es sich immer um sehr rudimentäre Waffen.

Die sind nicht ungefährlicher.

Sie haben aber nichts mit modernen Atomwaffen zu tun, ein nuklearer Prozeß ist sehr komplex. Die Hauptgefahr, vor allem bei der gegenwärtigen Unordnung, ist Rußland, wo man alles billig kaufen kann. Ich bin sicher, daß bestimmte Länder, etwa der Iran, sich das nötige Material für Atomwaffen besorgt haben.

Sie meinen, die Gefahr der Weiterverbreitung existiert mit oder ohne Atomtestwiederaufnahme?

Ja, diese Gefahr ist reell. Und man kann Frankreich nicht übelnehmen, daß es das geopolitische Gleichgewicht Europas sichern will. Auch wenn es da um Zeiträume von 30 oder 40 Jahren geht.

Die Europäer müßten folglich Frankreich dankbar sein?

So weit würde ich nicht gehen. Aber viele Europäer akzeptieren von den USA Dinge, die sie nicht von Frankreich akzeptieren. Zu den USA haben sie ein Verhältnis von Unterordnung – wie zu einer väterlichen Macht. Aber in einer schweren Krise, die immer möglich ist, werden die USA nicht das Schicksal ihrer Städte in die Waagschale werfen, um europäische Städte zu verteidigen. Wenn Westeuropa eine Reihe mitteleuropäischer Länder aufnimmt, braucht es eine europäische Verteidigung, die ihren Schirm ausbreiten kann. Ein Beispiel ist Polen, das heute weder der Nato noch der WEU angehört. Wenn es der Nato beiträte, würde Rußland das für eine Bedrohung halten. Wenn es in die WEU geht, können wir Polen eine gewisse nukleare Deckung geben. Das bedeutete mehr Stabilität für Europa. Besonders für Deutschland ist es wichtig, daß es im Osten nicht direkt an das potentielle Hegemoniegebiet Rußlands grenzt.

Sehen Sie eine Gefahr für einen europäischen Krieg?

Wenn, dann eher im Zusammenhang mit dem Nahen Osten. Ich bin sehr beunruhigt über die Lage im Nahen Osten, die Schwäche Saudi-Arabiens, die durch das Embargo dramatische, unmenschliche Lage im Irak, die verzwickte Situation Kurdistans durch die türkische Invasion, über den starken muslimischen Integrismus in Ägypten und Algerien und die Unordnung in Zentralasien — auch zwischen Rußland und einigen muslimischen Völkern, den Tschetschenen zum Beispiel. Wenn Sie Bosnien und die instabile Türkei hinzufügen, haben Sie die Elemente, ich sage nicht für einen Weltkrieg, aber für einen Konflikt, der sehr gefährlich sein kann.

Sehen Sie da Anwendungsgebiete für die Atombombe?

Nein. Die Abschreckung ist nicht für die Nord-Süd-Achse gedacht. Priorität hat der Dialog zwischen den Kulturen, die Wirtschaft, die Entwicklung, die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung der Völker.

Die deutsche Öffentlichkeit ist schockiert von der Ankündigung Chiracs, die Atomtests fortzuführen. In Frankreich dagegen regt sich kaum Kritik. Wie erklären Sie den Unterschied zu den Nachbarn?

Frankreich lebt noch mit dem Trauma von 1940 und der Niederlage in nur fünf Wochen. Die Franzosen wollen die Sicherheit.

Gibt es in Frankreich keine Pazifisten?

Nach 1918 war ganz Frankreich pazifistisch. Das erklärt unser 1940 und Vichy. Die Linke und die Rechte waren pazifistisch – so sehr, daß sie nicht vorhergesehen haben, was Hitler vorhatte. Die französische Militärspitze hatte bis 1940 einen Krieg gegen die UdSSR für möglich gehalten, nicht aber gegen Deutschland. Darum gibt es heute keine heftigen Reaktionen.

Wenn Sie Deutscher wären, würden sie dann auch für die französische atomare Abschreckung votieren?

Ich würde wünschen, daß das französische und vielleicht auch das englische Abschreckungssystem in den Dienst Europas gestellt würde. Wenn ich Deutscher wäre, würde ich es als Faktor für einen dauerhaften Frieden betrachten, wenn es in einem europäischen Rahmen Verpflichtungen von Frankreich und Großbritannien gäbe. Das käme nicht nur den Deutschen, sondern auch Mittel- und Osteuropa zugute. Aber das setzt eine gemeinsame Sicht unserer Zukunft voraus.