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Der Dichter Sowieso bitte ins Büro!

Und dann zurück auf die Schulbank der Literaturkritik. Trotz schöner Onanierszenen weiterhin Schwierigkeiten mit einer positiven Bewertung von Sexualität: Eindrücke vom Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Wien: Auf allen Bahnhöfen sammeln engagierte Katholiken Unterschriften für das „Kirchenvolksbegehren“, das sich gegen den Zölibat wendet und eintritt für eine „positive Bewertung der Sexualität“. Ein paar Meter weiter auf dem Bahnhofsboden liegen schon am Morgen Pornomagazine in beeindruckender Vielfalt. Das Hauptthema der anderen Zeitungen ist jedoch der „Mordfall Ott“. Wolfgang Ott, ein 18jähriger Extremsportler, Filmproduzent und „Triebtäter“, hatte eine junge Frau entführt, mißhandelt und betonbeschwert in einen Fluß geworfen, wie er am Donnerstag nach einer Woche immer hilfloserer Ausflüchte und Verteidigungsversuche gestand. Seit anderthalb Wochen erfährt man in der österreichischen Boulevardpresse tagtäglich auf zwei Seiten neue schreckliche Details über den Fall und die Biographie von Ott. Weitere Frauen werden vermißt.

Ein bißchen wird man beim Zeitunglesen an Musils Triebtäterhelden Moosbrugger erinnert – „Musil-Eis – Ich liebe es heiß“, heißt es in einem Klagenfurter Café; nach Klagenfurt kommt man mit dem IC „Ingeborg Bachmann“, und auch beim 19. Wettlesen um den heiß begehrten und mit 200.000 Schilling (30.000 Mark) dotierten Preis, dem sich 22 deutschsprachige Dichter letzte Woche stellten, ging es auffallend häufig um Sex, Mißbrauch, Mord und mehr oder weniger gelungene Wasserleichen.

Schreiben und sterben lassen

Der Schweizer Journalist Hanspeter Bundi ließ einen tagebuchschreibenden Junggesellen ein junges Mädchen morden. In der sehr schönen dörflichen Geschichte der Schweizer Autorin Marielle Mehr übt ein Kind tödliche Rache an den Männern, die es mißbrauchten. Recht lustig verendete ein hilfloser Yuppie, dem der Berliner Volker Kaminski ins Leben verhalf. Wasserleichen gab es bei der Freiburger Autorin Evelyn Grill, in der Geschichte des still-sympathischen Zürcher Arztes Enrico Danielli. Im Schwimmbad ertrinkt auch der Held der Geschichte von Ulrike Kolb. Mit bebender Nüchternheit beschreibt die Frankfurterin sein Ertrinken und seine Sektion: „Wer hätte gedacht, daß eine nach außen geklappte Haut wie eine lässig über der Brust geöffnete Jacke herabhängt? Lebte ich, lachte ich darüber.“ Dafür gab's zu Recht einen zweiten Preis.

Der Ostberliner Döblin-Preisträger Jirgl, einer der Vorabfavoriten, enttäuschte dagegen. Obgleich ein Detail seines Textes sehr beeindruckte. Da geht es um das Kindheitstrauma eines depressiven Arbeiters. Als kleiner Junge hatte er versucht, einer von russischen Soldaten (!) überfahrenen Taube, die nicht sterben wollte, mühselig mit dem Fahrrad zum Tod zu verhelfen. Als Kind sah er sich nicht um, nachdem er's knacken gehört hatte unter dem Rad. Im weiteren Verlauf scheitert der Text dann an blöden Symbolen, als der traurige Arbeiter seine Frau als Gekreuzigte sich vorstellt: „Ihren nackten Körper weiß und ausgebreitet, an die Balken genagelt, und voller Faszination starrte ich zu dem kleinen Haarbusch und zu den langsam sich öffnenden Schamlippen hinauf.“

Sex und Glück gehen nicht zusammen. Nicht nur hier – in Klagenfurt, wo Teeniemädchen in nächtlichen Parks neben Jungs beim Biertrinken wunderschön albern kichern – onanieren Männer „im Gestank von Pisse, Eisen und Öl“ (Jirgl), während existentialistisch-erlösungsgläubige Frauen – „Stopf mich mit dir. Ich will erlöst werden.“ – in ihrer „Triebhaftigkeit“ sich erniedrigen, „pfählen“, „stopfen“ und mit „Sperma“ übergießen lassen. Das sei nichts als lautere und selbst erlebte Wahrheit, ihr Text, sagte die junge Grazerin Monika Wogrolly. Jurorin Iris Radisch (Die Zeit) wollte sich dagegen keine „spermageladene Waffe zugute kommen lassen“, wie sie leicht angewidert betonte.

Wogrollys Text fiel durch, wie man so sagt, doch der schlanken, schwarz gekleideten Professorentochter gelang es, sich zu wehren. Gegen alle Regeln verwickelte sie die Jury in eine (immer richtige, immer banale) Diskussion über lebendiges Leben und tote Literatur. Gefühle seien nun mal kitschig, so seien auch die Worte, die man dafür finde, und jeder Mann wolle doch gern hören, wenn eine Frau ihm sagte, „daß da unten ein Glückslos-Automat sei, er möge das Millionenlos herausfinden: Fingere es aus mir heraus, mach schon.“ Da hatte sie die Lacher auf ihrer Seite.

Selbsterfahrung der bitteren Art

Eine Art „Selbsterfahrung“ sei die Teilnahme am Wettlesen für sie gewesen, sagte sie später, und sie sei ja noch mal glimpflich davongekommen. Anderen, durchaus gestandenen Dichtern ging's nicht so gut. Enrico Danielli zum Beispiel, der vor zwei Jahren eine wunderschöne, melancholisch-wehmütige Erzählung veröffentlicht hatte („Reisen nach Striland“), wurde gnadenlos erniedrigt und beleidigt wie ein Schüler.

Bei den Lesungen und Diskussionen im Sendestudio des ORF fühlte man sich mit Schrecken ständig an die Schule erinnert. Die Machtverhältnisse waren klar – auf der einen Seite die jungen und nicht mehr ganz so jungen Autoren (zwischen 25 und 53); auf der anderen die jungen (der Dichter Thomas Hettche, der übrigens schwarze Seidenstrümpfe trug, ist 31) und nicht mehr ganz so jungen (der 72jährige Literaturprofessor Peter Demetz) Juroren, die eine halbe Stunde lang aus dem Stand über die zehn bis zwanzig Seiten langen Texte – mal Romanauszüge, mal Kurzprosa – herfallen, während der Dichter, der Prüfling, zu schweigen hat. Manchmal bewundert man die wortreiche Schnelligkeit, mit der die Juroren den Texten ihren Platz zuweisen, manchmal ärgert man sich, wie sie sich, um Selbstdarstellung bemüht, an Details festbeißen; manchmal wundert man sich über das Urteil von einem, den man bislang für zurechnungsfähig hielt, manchmal spricht einem einer dann auch aus der Seele. Im allgemeinen nervte der glatte Germanistenjargon resp. Großkritikerjargon der Jury. Irgendwann gab es auch einmal eine Durchsage, die Dichter Sowieso und Sowieso sollten doch bitte ins Büro kommen. (Da gab's dann wohl einen schriftlichen Tadel.)

Die Rolle der bestgehaßten Lehrerin spielte laut und wichtigtuerisch Iris Radisch. Und dann übernahm sie auch gleich noch den Part der Klassenstreberin, die beim aufgeregten Sich-Melden immer „Ich!“ ruft. Mit dem Zeigefinger auf das Tischchen klopfend, wandte sie sich gegen Texte mit Zeigefinger. Ihr Lieblingswort war „spießig“. Tagtäglich kamen auch Schulklassen, um sich Dichter anzuschauen.

Alle zwei Stunden gab's eine Pause. Dann stand man da draußen in der Kärntner Sonne und unterhielt sich über die Noten, und Henryk M. Broder (Spiegel) erklärte, daß der Herr Rothschild ungeschickt angezogen sei, denn ein quergestreiftes Hemd schmeichle nicht unbedingt seiner Figur, und der Uni-Dozent Rothschild, der seine Studenten mitgebracht hatte, trug anderntags dann ein Hemd ohne Streifen. Und die Dichter, die am Ende des Wettbewerbs doch gern wieder ein abschließendes Fußballspiel gehabt hätten zwischen Juroren, Journalisten und Dichtern, trauten sich nicht, die Juroren darauf anzusprechen, denn dann würde das doch wieder gleich heißen, sie interessierten sich nur für Fußall. (Das Fußballspiel fand leider nicht statt.) Herr Rothschild sagte, er würde eher sowieso „ficken“, als Fußball zu spielen. Am Nachmittag ging man baden im schönen Wörthersee, und am Abend saßen alle wieder zusammen beim Essen, als wär's ein Schulausflug. Und es wurde immer schöner, angenehmer und interessanter im abgeschlossenen Universum der deutschsprachigen Literatur.

Albert Einsteins angeblicher Großneffe

Der junge Dichter Joachim Helfer, der in schöner Beiläufigkeit eine sehr schöne Onanierszene beschrieben hatte, wurde von einem Herrn mit wehenden weißen Haaren und im weißen indischen Gewand begleitet, den viele zunächst für den Guru des narzißtischen Hamburgers hielten. Er sei halt ein Indienfreund, erzählt der freundlich-kluge Herr, der sich als Großneffe von Albert Einstein zu erkennen gab und seit 13 Jahren mit Helfer zusammenlebt. Helfer, hieß es, versammle in Hamburg eine Schar junger Dichter um sich.

Glühwürmchen leuchteten am Abend. „So muß das Leben schmecken. Das ist das Dasein“, heißt es in dem begeisternd musikalischen Text des 28jährigen Wieners Franzobl, der nervös biertrinkend mit souveränen Sprachspielen den Juroren endlich einmal zum Verstummen brachte. „Die neueste Idee von unserem Dasein. Sie schalten, das Dasein kuppelt. Darling, jeden Tag ein Darlehen. Slipeinlagen bleiben einfach besser in Form. Und den Stil können Sie genau auf ihre Größe einstellen. Das Dasein mag man eben. Mutter, wie wird so ein Dasein gemacht? Das ist ganz einfach, man nimmt eine gute Zukunft mit guten Zinsen, und den Stil kann man genau auf seine Größe einstellen. Das Dasein zur Einführung. So soll es sein.“

Und so ging's dann weiter und hangelte sich in schwindelnde Höhen, ohne doch je abzustürzen oder in Jandl-Epigonentum zu verenden. Daß Franzobl schließlich gewann, überraschte kaum jemanden. Lange nicht mehr hatte ein experimenteller Dichter ohne jede Attitüde so lustig, verspielt und klug allen festen Sinn verflüssigt. Das neue Buch des Autors („Das öffentliche Ärgernis“, edition Selene) kaufte sich dann ein jeder.

Wer über den Bachmann-Preis schreibt, kann unmöglich den Texten gerecht werden. Dem Leser werden Namen wie Ilia Trojanow – der dreißigjährige Münchner las einen Ausschnitt aus einem ziemlich glatten Roman mit allwissendem Erzähler und allem Pipapo (Bertelsmann-Stipendium), Mariella Mehr – ihrer unspektakulären Geschichte über ein Kind, das sich an seinen Mißhandlern rächt, hätte man einen Preis gegönnt –, Gundi Feyrer – die frankophile Grazer Stadtschreiberin entwickelte in ihrer Gedankenpoesie eine Theorie des Sehens, in der die geschauten Dinge, Landschaften, Gesichter und Begriffe aufs schönste verschwinden (3Sat-Stipendium), oder Ingo Schulze bislang kaum etwas sagen. Zumal der Berliner Schulze, dem in seiner russischen Geschichte die zweite schöne erotische Szene gelang, bislang noch nichts veröffentlicht hat.

Viele Omas kamen in den Texten vor, zwei Fluchten, drei Texte spielten in Rußland, einmal wurde Pop à la Rainald Goetz geboten und am Ende eine Kitschreportage der Ostberliner Autorin Marion Titze, in der es um den Dichter und ehemaligen Auschwitz-Häftling Imre Kertșz und vor allem mit tausend Betroffenheitsklischees um die Autorin selber ging. Irgendwo heißt es in ihrem Text, Imre Kertșz „hat uns Auschwitz geschenkt“. Nun ja, Klagenfurt ist eben doch klasse!

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