: Eine Opposition für den Morgen danach
In der Ex-Sowjetrepublik Armenien wird morgen zum zweitenmal seit der Unabhängigkeitserklärung ein Parlament gewählt. Doch diese zweiten „freien“ Wahlen sind alles andere als frei. Dafür hat Präsident Ter-Petrosjan gesorgt ■ Von Jürgen Gottschlich
Zum zweitenmal seit der Unabhängigkeit der Republik 1991 entscheiden die Armenier morgen über die Zusammensetzung des Parlaments. Gleichzeitig mit den Parlamentswahlen sollen die Armenier über eine neue Verfassung abstimmen. Allgemein geht man in Jerewan davon aus, daß der regierende Block „Hanrapetutjun“, auf den Präsident Levon Ter-Petrosjan sich stützt, die Wahlen sicher gewinnen wird – allerdings nicht, weil der Präsident so beliebt ist, sondern weil der Opposition jede nur denkbare Hürde in den Weg gestellt wurde, bis hin zum zeitlich befristeten Verbot der wichtigsten Konkurrenzpartei. Entsprechend scharf beurteilt David Petrossian, Analyst der unabhängigen Nachrichtenagentur Nojan Tapan (Arche Noah), die innenpolitische Situation Armeniens: „Die ersten Wahlen vor vier Jahren waren demokratischer als die jetzt bevorstehenden, auch wenn damals noch alles durcheinanderging.“
Ein Grund, warum Petrossian für die Entwicklung demokratischer Verhältnisse in Armenien ziemlich schwarzsieht, ist die Art und Weise, wie sich Präsident Ter- Petrosjan die wichtigste Konkurrenz aus dem Weg räumen ließ. Am 28. Dezember letzten Jahres verbot das Oberste Gericht Armeniens auf Antrag der Regierung die „Armenische Revolutionäre Föderation – Daschnakzutjun“ die älteste und traditionsreichste Partei Armeniens, für die Dauer von sieben Monaten. Nach den Wahlen darf die Partei wieder aktiv werden, zu den Wahlen ist sie nicht zugelassen. Zur Begründung wirft die Regierung den Daschnaken vor, innerhalb ihrer Reihen gebe es eine bewaffnete Formation, die gewaltsam am Umsturz der Republik arbeite und auf deren Konto Anschläge auf führende Politiker des Landes gingen. Außerdem säßen in den Führungsgremien der Partei hauptsächlich Auslandsarmenier, die Organisation sei also vom Ausland gesteuert und dürfe deshalb nicht in die innenpolitischen Entscheidungen des Landes eingreifen.
Nun ist es tatsächlich so, daß, ähnlich wie in Israel, die armenische Diaspora zahlenmäßig weit größer ist als die Bevölkerung in Armenien und die Auslandsarmenier durch Geld, Beziehungen und Know-how einen entscheidenden Beitrag zum Aufbau des Landes leisten. Daraus leiten sich politische Erwartungen ab, die häufig mit der Politik der amtierenden Regierung kollidieren. Wichtigster außenpolitischer Streitpunkt ist die Frage, welches Verhältnis Armenien zur Türkei anstreben soll. Während Ter-Petrosjan und sein wichtigster Berater, Geraya Libaridian, ein US-Armenier und gewendeter Daschnake, ganz realpolitisch für einen Ausgleich mit Ankara eintreten, besteht die Daschnakzutjun auf einem türkischen Schuldeingeständnis zum Völkermord 1915 und einer Rückgabe der westarmenischen Gebiete in der Osttürkei.
Von einem Ausgleich mit der Türkei hängt für Armenien tatsächlich viel ab: Eine Einigung mit Aserbaidschan würde einfacher, die Option, die zukünftige Ölpipeline von Baku aus über Armenien in die Türkei zu verlegen, würde realistischer, und die Abhängigkeit Armeniens von Rußland würde sich insgesamt verringern. Um diese Ziele zu erreichen, ist die Regierung zu weitgehenden Zugeständnissen bereit. So hat der designierte Bildungsminister Ashot Blejan unlängst vorgeschlagen, den Genozid im Schulunterricht nicht mehr zu behandeln, um die Kinder nicht damit zu belasten, und auch das zeitweilige Daschnakenverbot wird von einigen Beobachtern als Signal an die Türkei interpretiert.
Mitte Juni schloß dann die zentrale Wahlkommission erneut neun Parteien von der Wahl aus – angeblich weil sie die notwendigen 10.000 Unterschriften für ihre Kandidatur nicht beibringen konnten. Es kam zu einer großen Demonstration vor dem Präsidentenpalast, die Innenminister Vano Sighderjan mit brutaler Härte auflösen ließ. 14 Oppositionspolitiker wurden dabei teils schwer verletzt, 30 weitere verhaftet.
Sighderjan, der die Truppen des Innenministeriums und den Geheimdienst kontrolliert, ist einer der Hauptverantwortlichen für die innenpolitische Zuspitzung. Inwieweit einer der schwerwiegendsten Zwischenfälle in den letzten Wochen allerdings auf sein Konto geht, ist nach wie vor unklar. Am 16. Mai starb in einem Untersuchungsgefängnis des Geheimdienstes Artavazd Manukian, Mitglied des Zentralkomitees der Daschnaken. Ihm wurde vorgeworfen, er gehöre zur innerparteilichen Terrororganisation „Dro“.
Der Tod Manukians führte zu heftigen Protesten, die die Regierung durch offenkundige Vertuschungsversuche noch verschärfte. Die Obduktion der Leiche wurde verhindert, und als Todesursache wurde „unbekannt“ angegeben. Als Ter-Petrosjan sich schließlich gezwungen sah, vor dem Parlament eine Stellungnahme abzugeben, nutzte er die Situation nicht zur Aufklärung der Todesursache, sondern zu einem massiven Angriff auf die Daschnaken und den Toten. „Die Daschnakzutjun“, so Ter-Petrosjan, „ist eine terroristische und faschistische Organisation. Ihre wesentlichen Aktivitäten in den letzten fünf Jahren waren politischer Mord, verdeckter Terrorismus und Drogenhandel.“
Als wichtigste Gegner der Präsidentenpartei bleiben so nur die Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Partei und die „Wissenschaftliche und industrielle Bürgerunion Armeniens“. Obwohl die KP sich wachsender Beliebtheit erfreut, sind ihre Chancen geschmälert, weil ihr populärster Mann, der frühere Republikchef Garen Demirtschjan, nicht antritt, sondern die Präsidentschaftswahlen 1996 abwartet. Die Bürgerunion entspricht in etwa den Zentristen in Rußland. Sie wollen die Literaten und Intellektuellen der Unabhängigkeitsbewegung durch „kompetente“ Technokraten und Bürokraten ersetzen und das Know-how der alten Zeit wieder nutzbar machen. Ihr stärkstes Argument ist die wirtschaftliche Misere des Landes, die um so mehr in den Vordergrund tritt, als der Krieg um Berg Karabach nach dem Waffenstillstand langsam nicht mehr die innenpolitische Diskussion beherrscht.
Langfristig entscheidend für die innere Situation des Landes aber wird die Abstimmung über die Verfassung sein. Der jetzt von der Regierung vorgelegte Entwurf ist heftig umstritten, weil er dem Präsidenten weitestgehende Vollmachten einräumt und Parteien und Parlament entscheidend schwächt. Ähnlich wie in Rußland ist der Entwurf von dem Glauben an den „starken Mann“ getragen, auf den letztlich alles zulaufen muß. Die Wahlbürger Armeniens haben damit morgen auch die Gelegenheit zu entscheiden, wieviel Demokratie sie sich selbst zutrauen.
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