Unterdrückt, verfolgt und schwer bestraft

■ In den fünfziger Jahren bekämpften Jugendliche in Thüringen die SED-Diktatur. Patrik von zur Mühlen hat die Geschichte des „Eisenberger Kreis“ recherchiert

„Deutscher! Was hat Dir die bisherige bolschewistische Herrschaft gebracht? Entziehung der freien Meinungsäußerung, der Versammlungsfreiheit, des Streikrechts. Immer noch kriegsmäßiges Kartensystem, HO-Wucherpreise und rücksichtslose Ausbeutung. Willst Du das alles noch länger mit ansehen? Deshalb stimme mit Deinen verläßlichen Arbeitskameraden gegen die sogenannte ,Nationale Front‘!“

Diesen Text schrieben kurz vor den Volkskammerwahlen im Oktober 1954 Oberschüler auf Din- A4-Plakte und klebten sie auf Hauserwände in der thüringischen Kleinstadt Eisenberg. Über drei Jahre sollten vergehen, bis die Staatssicherheit den Urhebern auf die Spur kam.

Dann, ab 13. Februar 1958, schlugen die Genossen zu. In den nächsten Wochen wurden 22 Mitglieder der von der Stasi als „Eisenberger Kreis“ heftig verfolgten Widerstandsgruppe verhaftet. Einge dieser früheren Oberschüler studierten inzwischen an der Universität Jena. Aber nach wie vor blieb ihre Heimatstadt Eisenberg der eigentliche Ausgangspunkt, von dem die Aktionen der Gruppe ausgingen. Gleich geblieben war auch das Ziel ihrer Aktivitäten: Sturz der kommunistischen Herrschaft durch freie Wahlen, was zwangsläufig in die Einheit Deutschlands gemündet hätte.

Widerstand und Opposition im ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat blieb spätestens seit den siebziger Jahren ein Randthema in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung. Wenn überhaupt, so wandten sich diese DDR- Forscher den reformkommunistischen Bestrebungen zu. Diese einseitige Betrachtungsweise trug wesentlich zur Entstehung des Bildes von der stabilen DDR bei. Zwar gab es dort keine freien Wahlen, aber im Grunde schienen die Menschen jenseits der Mauer zufrieden. Den Opponierenden konnte es nur darum gehen, die Gebrechen des Sozialismus zu beseitigen, um der Alternative zum bösen Kapitalismus zum endgültigen Durchbruch zu verhelfen, so die übliche Geschichtsauffassung.

Dieses Bild wird durch die eben erschienene Untersuchung Patrik von zur Mühlens, Mitarbeiter des Forschungsinstitutes der Friedrich-Ebert-Stiftung, wesentlich korrigiert. Er hat die Geschichte des Eisenberger Kreises von der Entstehung über die Zerschlagung durch das MfS bis zur Selbstverständigung der Mitglieder nach der Wende einfühlsam und genau nachgezeichnet. Als Grundlage dienten Dokumente aus einschlägigen Archiven und von den Betroffenen zur Verfügung gestellte MfS-Unterlagen. Von zur Mühlen hat außerdem Mitglieder der Gruppe ausführlich befragen können und versucht auch mit denjenigen zu sprechen, die auf der anderen Seite der Barrikade standen. Letzteres allerdings blieb ohne Erfolg. Der Autor beschränkt sich jedoch nicht darauf, die Aktivitäten der Gruppe darzustellen, sondern beleuchtet ausführlich die politischen Rahmenbedingungen in den fünfziger Jahren sowie den Alltag in der damaligen DDR.

Die Motivation zum Widerstand ergab sich für die Eisenberger Oberschüler aus den unmittelbaren Erfahrungen in der kommunistischen Diktatur. Sie erlebten, wie die Mitglieder einer christlichen Jugendorganisation, der „Jungen Gemeinde“, im Rahmen des forcierten Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus im Frühjahr 1953 drangsaliert wurden. Am 17. Juni 1953 stand das kommunistische Regime in Ostdeutschland dann vor dem Zusammenbruch, der nur durch das Eingreifen der sowjetischen Besatzungsmacht verhindert werden konnte. Diese Ereignisse festigten das Bewußtsein unter den Gruppenmitgliedern, daß die Mehrheit der Bevölkerung das kommunistische Regime in Ostdeutschland ablehnte. Dies rechtfertige ihren Widerstand dagegen. Als Vorbilder dienten ihnen auch Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. So diskutierten sie offen, ob man sich nicht Stauffenberg-Gruppe nennen sollte.

Mit seinen Aktionen verfolgte der Eisenberger Kreis in erster Linie das Ziel, eine Gegenöffentlichkeit zur offiziellen SED-Propaganda herzustellen. Dem diente beispielsweise die eingangs erwähnte Flugblattgeschichte. Der wohl spektakulärste Coup der Gruppe war ein Brandanschlag auf einen Schießstand am 21. Januar 1956, der aus Protest gegen die Bildung der Nationalen Volksarmee und die damit verbundene Wiederaufrüstung erfolgte. Später, als einige Gruppenmitglieder an der Jenaer Universität studierten, kam es auch hier zu Widerstandshandlungen. Aber „alle diese durchgeführten oder geplanten Aktionen sollten ohne Worte das ausdrücken, was die breite Bevölkerung dachte und somit auch sofort verstand“, bilanziert von zur Mühlen. Eine Bemerkung des Staatsanwalts in dem gegen 13 Gruppenmitglieder 1958 durchgeführten ersten Prozeß zeigt indirekt, wie zutreffend das war: „Wenn man bei der Strafverfolgung konsequente Maßstäbe angelegt hätte, dann hätte man die halbe Stadt [Eisenberg, Anm. d. Red.] verhaften müssen.“ Ohne die stillschweigende Billigung der Bevölkerung hätte der Eisenberger Kreis sicherlich nicht fast vier Jahre existieren können. Zu Recht verweist von zur Mühlen bei der Beschreibung des Prozeßablaufs 1958 auf ähnliche Verfahrensweisen wie in den Prozessen vor dem „Volksgerichtshof“ während der Nazizeit. Insgesamt wurden in vier verschiedenen Prozeßen 24 Personen verurteilt, ihre Gesamtstrafe betrug 114 Jahre und sechs Monate Haft. Die harten Urteile zeigen, wie sehr die Partei- und Staatsführung in der DDR das Volk fürchtete. In einem kurzen Text am Ende des Buchs begründet der Kopf des Eisenberger Kreises, der nach sechs Jahren Haft 1964 von der BRD freigekaufte Thomas Ammer, die Notwendigkeit, Opposition und Widerstand während der Frühzeit der DDR zu erforschen: „Dies ist man einmal den toten und lebenden Oppositionellen schuldig und zum anderen generell den Bürgern in den neuen Bundesländern, denen zuweilen der unberechtigte Pauschalvorwurf allgemeiner Anpassung unter das SED- Regime gemacht wird.“ Armin Mitter

Patrik von zur Mühlen: „Der ,Eisenberger Kreis‘. Jugendwiderstand und Verfolgung in der DDR 1953–1958“. Verlag J. H. W. Dietz, Bonn 1995, 256 Seiten, 38 DM