Baseball im Westen, Banner im Osten

In seiner „Umerziehung der Deutschen“ untersucht der Historiker Karl-Heinz Füssl die rivalisierenden Jugend- und Schulkonzepte der USA und der Sowjetunion von 1945 bis 1955: mit vorhersehbarem Ergebnis  ■ Von Christian Semler

Seit die Sorge um die „Renationalisierung“ des vereinten Deutschland die Linke umtreibt, hat die Idee der Westbindung für einige ihrer Wortführer geradezu normative Geltung erlangt. Der späten Erkenntnis folgte eine neue Interpretation der bundesrepublikanischen Geschichte. Nach ihr war es erst die Studentenrevolte, die, trotz ihrer Injurien gegen die parlamentarisch-repräsentative Demokratie, die Einbindung der alten Bundesrepublik in die westliche Zivilisation vollendete. Eben jene westlichen Werte, Partizipation, Verantwortung für das Gemeinwesen, Zivilcourage und Toleranz, seien jetzt in Gefahr, und dies nicht nur, weil die Verpflichtung auf die Nation als höchster Wert dräut. Schuld seien auch die durch zwei aufeinanderfolgende autoritäre Regime politisch falsch sozialisierten Ostmenschen. Sie trampelten im liberalen Lustgarten herum und leisteten denen Vorschub, die nur noch akurat gezogene Beete dulden wollen.

Diese Gemütslage befördert das Interesse an vergleichenden historischen Studien zur „Umerziehung“ der Jugendlichen in der Zeit nach 1945, später in den beiden deutschen Staaten. Und siehe — gerade zu diesem günstigen Zeitpunkt erscheint ein Werk, gelehrt im Duktus und beeindruckend durch die Fülle des bearbeiteten Materials. Die Arbeit des Historikers und Erziehungswissenschaftlers Karl-Heinz Füssl stellt die amerikanischen den sowjetisch inspirierten Erziehungsbemühungen gegenüber und zeichnet die Rivalität beider im Berlin der ersten Nachkriegsjahre nach. Was wir Linken immer schon ahnten, aber mit Rücksicht auf die Ikone „konsequenter Antifaschismus der DDR-Frühzeit“ nicht so recht auszusprechen wagten, in Füssls Arbeit wird es auf den Begriff gebracht: Die Amis legten den Grundstein fürs selbstbewußte, antiautoritäre Denken, das sich in den 60er Jahren schließlich Bahn brach. Im Herrschaftsbereich der Sowjetunion hingegen waltete unter dem Banner des entschiedenen Bruchs mit dem Faschismus die Kontinuität des autoritären, preußischen Schulmeisters.

Füssl stützt sich nicht nur auf die amerikanischen Regierungs- und Armeearchive, er wertete auch Materialien des FDJ-Archivs und des ehemaligen IML (Institut für Marxismus-Leninismus) aus. Schließlich befragte er ehemalige Jugendaktivisten in Westberlin (zum großen Teil mit antifaschistischem Hintergrund), die die Auseinandersetzung um die drohende Einheitsorganisation FDJ durchstanden. Sehr zum Nachteil seines Unternehmens war Füssl nicht imstande, einen ähnlichen Ausflug in die Oral history mit Junglehrern wie Schülern in der vormaligen SBZ zu unternehmen. So erscheint die Erziehungsarbeit der Sowjets beziehungsweise der deutschen Kommunisten nur im Licht interner Berichte und Direktiven. Kein bißchen blinken die Hoffnungen und Sehnsüchte derer auf, die damals glaubten, jetzt auch der ersehnten Güter von Kultur und Bildung („Brüder, zum Licht empor“!) habhaft zu werden. Um das zu verstehen, muß man immer noch Peter Weiß' „Ästhetik des Widerstandes“ lesen. Wie viele Absolventen der (späteren) Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten amüsieren sich heute im Westen als wohlbestallte Techniker, Ingenieure oder Theaterleute über den Konformismus und die Unterwürfigkeit ihrer ehemaligen Landsleute – und werden doch den alten Übervater nicht los? Klar, daß alle Vorstellungen über selbständige, selbstverwaltete Jugendarbeit schon nach kurzer Zeit unter die Räder des Ost- West-Konflikts kamen, daß auch im Westen der Antikommunismus die guten Absichten der Reformpädagogik überlagerte. Das Kapitel seiner Arbeit, „Das Ringen um die Berliner Jugend“, gibt darüber illusionslos Rechenschaft. Es gemahnt – für ältere Semester keineswegs überraschend – an manche Exzesse des „ideologischen Kampfes“ an den Universitäten der Bundesrepublik. Dennoch: Im ganzen genommen ist der zweite, der „Sowjetisierung“ der ostdeutschen Jugendpolitik gewidmete Teil von Füssls Untersuchung allzusehr aus der Perspektive des Siegers geschrieben. Post hoc ergo propter hoc.

Weit größeres Vergnügen bereitete dem Rezensenten der erste, von der Jugendpolitik der Amerikaner handelnde Teil des Werkes. Kam er doch als Erstklässler selbst in den Genuß eines lange währenden, von den Besatzern verordneten schulfreien Sommers, war er doch Empfänger von Hersheys Schokolade und Ahornsaft, später von bunten Broschüren über Abe Lincolns Kampf gegen die Sklaverei, entwickelte sich zum leidenschaftlichen Hörer von „Frolic at five“ und ist somit als Produkt einer geglückten Umerziehung anzusehen. Mit milder Ironie schildert Füssl die Wirrnisse sich durchkreuzender Schul- und Jugendkonzepte, die Rivalität zwischen der US-Army und der Militärregierung im Kampf um die Seelen der vom Nazismus verseuchten Kids. Füssl verrät deutliche Sympathien mit dem „German Youth Activities“-Programm der Armee, einem spontan entstandenen Selbstläufer. Wer tanzen, Baseball spielen, Englisch lernen, sich satt essen wollte – hier, in den massenhaft beschlagnahmten Villen, Heimen und Sportplätzen gab es dazu Gelegenheit. Und es gab Lehrer, gänzlich unvorbereitete, pädagogisch völlig unqualifizierte, enthusiastische GIs. Das sah die Militärregierung nicht gern, und auch die neu entstehenden deutschen Jugendverbände verabscheuten diese Art von Erziehung. Aber fast eine Million „deutsche Jungens und Mädels“ (letztere deutlich unterrepräsentiert) lernten fast spielerisch, daß es eine Alternative zur deutschen Volksgemeinschaft gab.

Wie hoch dieser Erfolg der Reeducation veranschlagt werden muß, kann nur ermessen, wer die von Füssl referierten, deprimierenden Ergebnisse der Schülerbefragungen in der Nachkriegszeit zur Kenntnis nimmt: Apathie, Ablehnung der demokratischen Lebensform, tief eingefressener Autoritarismus, keinerlei Schuldgefühle. Die Lehrerschaft, überaltert, gefangen in der Welt von Gehorsam und Disziplin. Was Füssl schildert, bestätigt der Rezensent. Wurde er doch als Zögling des Wilhelm- Gymnasiums in München von einem in Reitstiefeln unterrichtenden Pädagogen regelmäßig vor die Wahl gestellt, entweder die Hausaufgaben zweimal schriftlich zu wiederholen oder seine Krakel- handschrift mit zweimal zwei Ohrfeigen zu büßen. Aber jenseits der Untertanenfabrik gab es noch eine andere, glücklichere Welt, in der die Köstlichkeiten der „vernegerten“ Kultur lockten. Füssls Buch gibt, streng wissenschaftlich, eine Ahnung davon.

Karl-Heinz Füssl: „Die Umerziehung der Deutschen“. Paderborn, 2. Auflage 1995, 398 Seiten, 78 DM