Niemand will auf die Seite der Loser

Bevor heute die Abstimmung über den Posten des Tory-Parteiführers über die Zukunft von Premier John Major entscheiden wird, traut sich innerhalb der Partei keiner zu sagen, was er denkt  ■ Aus London Ralf Sotscheck

Das ist meine Antwort“, lacht der alte John auf die Frage, wer die Wahl um die Tory-Parteiführung gewinnen werde, und zeigt auf einen Bilderrahmen an der Wand. Unter dem Foto steht mit Maschine geschrieben: „Major, der Sieger.“ Auf dem Foto ist aber nicht der britische Premierminister abgebildet, sondern ein Windhund. „Der schnellste in Südengland“, sagt der alte Mann. Das Bild hängt schon 20 Jahre hier im Club.

Der Club – das ist die „Royal British Legion“ in der Hollyfield Road in Tolworth, einem Vorort im Süden Londons. Tolworth gehört zur Gemeinde Kingston, dem Wahlkreis Norman Lamonts. Der war früher Schatzkanzler, ist aber nach dem Sturz der britischen Währung vor zwei Jahren von John Major zum Minister für Wales degradiert worden und trat daraufhin wutentbrannt aus dem Kabinett aus. Jetzt, so glaubt er, ist die Stunde der Rache gekommen: John Redwood, den Major statt dessen zum walisischen Minister ernannte, hat den Premierminister bei der morgigen Wahl um die Tory-Führung herausgefordert, und Lamont macht den Wahlkampf für ihn. Beide waren früher Investmentmanager bei der Rothschild- Bank, beide gehören dem rechten Flügel an, Europa ist für beide ein rotes Tuch. Gewinnt Redwood, kann kann sein Vasall Lamont mit einem Kabinettsposten rechnen. Es ist wohl seine letzte Chance: Nach der anstehenden Kreisreform existiert sein Wahlkreis nicht mehr, und von einem anderen Wahlkreis wird er nicht nominiert, wenn er diesmal aufs falsche Pferd gesetzt hat.

„Redwood hat keine Chance“, sagt John, der Weltkriegsveteran. Er ist „so Mitte siebzig“, hat seine dünnen, grauen Haare mit ein wenig Brillantine streng nach hinten gekämmt und sieht in seinem hellgrauen Anzug aus wie ein pensionierter Schuldirektor. Nein, sagt er, Lehrer sei er nicht gewesen, sondern „nur ein kleiner Beamter“. Er hat in seinem Leben meist für die Konservativen gestimmt. „Das heißt aber nicht, daß ich auf meine alten Tage meine Meinung nicht noch ändern könnte“, fügt er schnell hinzu. „Redwood ist ein Mann der Schlagworte. Er sagt, er sei gegen die Abschaffung der königlichen Yacht. Damit will er die Stimmen der royalistischen Tory- Abgeordneten einfangen, aber ihre Sitze rettet er bei den nächsten Wahlen dadurch nicht.“ Dann beugt er sich vor und fügt leise hinzu: „Hier im Club ist dieser Programmpunkt natürlich gut angekommen.“ Die „Royal British Legion“ ist eine Wohlfahrtsorganisation für ehemalige Soldaten. Die Clubhäuser, die über das ganze Land verteilt sind, dienen als soziale Knotenpunkte für die Soldaten und ihre Angehörigen. Das braune Gebäude in der Hollyfield Road in Tolworth ist geräumig. Am Eingang sitzt der Kassierer, der Nichtmitgliedern fünfzig Pence abnimmt und ihnen dafür einen Passierschein aushändigt, sofern sie in Begleitung eines Mitglieds sind. Hinter der Glastür liegt ein langer Saal mit einer Bühne, auf der eine Tanzkapelle spielt. Links geht ein kleinerer Raum ab, der mit rotgepolsterten Bänken und Hockern eingerichtet ist. An der Längswand ist eine Theke, in der Ecke führen ein paar Stufen in den Billardraum.

Es sind keineswegs nur Weltkriegsveteranen da, im Tanzsaal und an der Theke sind auch viele junge Leute. „Die Getränke sind viel billiger als im Pub“, sagt John, „außerdem können auch Nicht- soldaten aufgenommen werden, wenn sie von zwei Clubmitgliedern vorgeschlagen werden.“ Im vergangenen Jahr kam es zu einem Eklat, weil zwei der Jüngeren sich geweigert hatten, zur Nationalhymne, die die Band stets zur Sperrstunde spielt, aufzustehen. Sie mußten sich beim Vorstand entschuldigen, sonst wären sie aus dem Club hinausgeworfen worden. „Seitdem stehen sie auf“, sagt John, „das sind nun mal die Regeln. Es ist ja niemand gezwungen, hier sein Bier zu trinken, wenn er Patriotismus nicht mag.“ Zum „Victory in Europe Day“, dem 50. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai, war das Clubhaus mit 4.000 Union Jacks geschmückt. „Das war die Stunde der Alten“, sagt John, „da haben wir noch mal die ganzen Geschichten über die Landung in der Normandie, das Überschreiten des Rheins und so weiter ausgetauscht.“ Seit zehn Tagen beherrscht die Wahl des Tory-Chefs die Gespräche. „Eins ist sicher“, sagt David, der dem Bowls-Team des Clubs angehört, „es wird spannend.“ Er meint, die Tory-Wahl sei wie das „Dilemma der Gefangenen“, ein Gesellschaftsspiel aus dem Jahr 1950. „Zwei Männer werden für ein Verbrechen, das sie begangen haben sollen, festgenommen und in getrennte Zellen gesperrt“, erklärt er. „Der Sheriff sagt ihnen, daß sie zu zwei Jahren verurteilt würden, wenn beide die Aussage verweigerten. Falls nur einer das gemeinsame Verbrechen gestünde, würde er freigelassen und der andere zu zwölf Jahren verurteilt. Legten jedoch beide ein Geständnis ab, bekämen sie jeder vier Jahre. Das Ergebnis ist immer dasselbe: Beide gestehen, obwohl es für sie besser wäre, wenn beide den Mund hielten. Bei den Tories ist es genauso – nur viel komplizierter.“

Es gehe keinem Tory-Abgeordneten um das Wohl der Partei, moniert David, der selbst Parteimitglied ist. „Jeder will sein eigenes Schäfchen ins trockene bringen“, sagt er, „bei einer Umfrage ist in der vergangenen Woche herausgekommen, daß Handelsminister Michael Heseltine bei Parlamentswahlen um zwei bis drei Prozent besser als Major abschneiden würde. Das würde zwar auch nicht für einen Wahlsieg reichen, aber rund 50 Abgeordnete könnten ihren Sitz behalten, den sie mit Major als Kandidaten verlieren würden.“ Alte Freundschaften zählten nichts, wenn man die eigene Haut retten will. „Michael Portillo vom rechten Flügel erklärt ungefragt seine Loyalität zu Major, und dann stellt sich heraus, daß er längst ein Büro gemietet hat, wo seine Wahlkampagne koordiniert werden soll, wenn es eine zweite Runde eine Woche später gibt. Und Heseltine hat sein Wahlkampfteam für diesen Fall auch schon beisammen.“

Für wen würde David stimmen? „Wenn Major immer so aufgetreten wäre wie am Freitag in der parlamentarischen Fragestunde“, sagt er, „dann wäre es gar nicht zu dieser Krise gekommen. Er war richtig witzig und hat die Angriffe der Labour Party souverän abgebügelt. Das hat ihm bestimmt 20 bis 30 Stimmen der Unentschlossenen eingebracht. Aber ob das reicht?“

Major schrieb gestern im Daily Telegraph, daß die Tory-Partei vor dem Abgrund stünde und heute eine einfache Wahl habe: „Sie kann hinunterspringen, oder sie kann dieser Sache ein Ende machen, sich für eine bessere Zukunft für unser Land einsetzen und endlich wieder Labour unter Druck setzen.“ Direkt neben Majors Aufsatz hieß es im Leitartikel: „Es ist Zeit, daß Mister Major geht“, heißt es darin, „um einem anderen Parteiführer die Gelegenheit zu geben, die Tories zu retten.“

Auch die Zeitungen des Medienzars Rupert Murdoch, dessen Tory-Sympathien kein Geheimnis sind, haben sich von Major abgewandt. Sie rechnen zwar damit, daß der Premierminister heute gewinnen wird, aber nicht mit der deutlichen Mehrheit, die ihm ein Weitermachen ermöglichen würde. Intern, so heißt es, habe er sich 200 der 329 Stimmen als Mindestziel gesteckt.

Doch auch Redwood macht den Eindruck eines Losers. Ein Mitglied seines Wahlkampfteams orakelte am Wochenende, daß man womöglich nur 50 Stimmen erringen werde. Schuld daran sei Michael Portillo, der seine Leute angewiesen habe, sich zu enthalten, um Redwood für die erwartete zweite Runde zu schwächen. „Wer einen neuen Parteiführer will“, sagte Redwood gestern, „muß auch für einen Wechsel stimmen. Das ist die einzige Möglichkeit. Die Leute, die sie vielleicht gerne hätten, kandidieren nicht, deshalb haben sie gar keine andere Wahl, als für mich zu stimmen.“

Eunice Paxman gibt ihm recht. Sie ist Sprecherin der Bezirksorganisation in Tolworth, deren Büro – ein großes, altes Haus an der Ewell Road in Richtung Kingston – nur einen Steinwurf vom Club der „Royal British Legion“ entfernt liegt. „Wenn jemand die Partei hinter sich hat“, sagt Paxman, „muß er ja nicht eine Wahl um die Parteiführung heraufbeschwören.“ Sie würde für Redwood stimmen. „Aber das ist meine persönliche Meinung. Wir hatten am Freitag in unserer Organisation darüber diskutiert, das Ergebnis war fifty-fifty. Aber zur Zeit sagt doch niemand in dieser Partei die Wahrheit, weil niemand hinterher mit dem Verlierer in Verbindung gebracht werden möchte. Und die Bezirksorganisationen können ihren Abgeordneten hundertmal sagen, wie sie stimmen sollen – am Ende machen die in der geheimen Abstimmung doch, was sie wollen.“ Laut einer BBC-Umfrage würden 93 Prozent der Bezirksvorsitzenden heute für Major stimmen. Sollte Major aus dem Rennen ausscheiden, würden 41 Prozent Portillo wählen und 31 Prozent Heseltine. „Aber für die Bezirksvorsitzenden stehen eben keine Unterhausmandate auf dem Spiel“, sagt Paxman.

„Redwood wäre der Untergang für die Tories“, meint John, der Weltkriegsveteran, „bei den nächsten Parlamentswahlen bekäme die Partei die Quittung. Sie sollten auf Margaret Thatcher hören: Sie hatte bei ihrem Abgang Michael Portillo zu ihrem Nachfolger bestimmt und ließ sich dann davon abbringen, weil er zu jung war.“ Diesmal hat sie sich zurückgehalten und beiden Kandidaten bescheinigt, „echte Tories“ zu sein. „Gemeint hat sie, daß beide nichts taugen“, glaubt John, „sie will nach wie vor Portillo.

Für Lamont macht das wenig Unterschied, er wäre wohl bei Redwood und Portillo im Kabinett vertreten. In seiner Rücktrittsrede hat Lamont damals dem Premierminister vorgeworfen, daß er zwar im Amt sei, aber nicht an der Macht. Das könnte sich nach der Wahl am Dienstag erst recht bewahrheiten. Die Einheit der Partei, die er herbeiführen wollte, wird es nicht geben. Das hätte sich Labour nicht besser ausdenken können.“ Dann zeigt er wieder auf das Foto des Windhundes Major und sagt: „Der Hund hat mir damals beim Buchmacher fünfzig Pfund eingebracht“ – aber auf seinen zweibeinigen Namensvetter setzt er keinen Penny.