: Vom Boykott von Zange und Bohrer
Der Aufruf der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KZVN) bringt nicht nur Zahnärzte zum Boykott, sondern auch Patienten / Heute kommt der Staatskommissar ■ Aus Hannover Jürgen Voges
Nein, eine Rechnung hat die Dame, die die Zahnarztpraxis an der hannoverschen Georgstraße gerade verläßt, nicht in die Hand gedrückt bekommen: „Vielleicht kommt sie später“, antwortet sie etwas verwirrt. In den Praxisräumen allerdings ist der Krankenkassenboykott, zu dem die Kassenzahnärztliche Vereinigung aufgerufen hat, durchaus spürbar: Am Montag morgen um elf sitzt kein einziger Patient im Wartezimmer. „Ich habe Anweisung, keine Chipkarten der Kassen zu akzeptieren“, sagt die junge Zahnärztin, die die Chefin im Urlaub vertritt. Darauf haben die Patienten offensichtlich ihrerseits mit Boykott geantwortet. Lediglich zwei Schmerzpatienten und einige in längerfristiger Behandlung haben Bohrer oder Zange nicht gescheut.
Der Zahnarzt auf der anderen Straßenseite ist in Urlaub, beim nächsten wird ganz normal behandelt. So hat sich die KZVN ihren Kassenboykott, also ihren Aufruf, Patienten nur noch gegen sofortige Rechnung zu behandeln, sicher nicht vorgestellt. Immerhin ist die Aktion von langer Hand vorbereitet, hat die Vertretung der Kassenzahnärzte monatelang die Honorarschlichtung rechtswidrig boykottiert, um den jetzigen vertragslosen Zustand zu erreichen. Dieser Boykott hat ihr jetzt den Besuch des Staatskommissars eingebracht.
Schließlich findet sich doch noch eine Praxis, in der die Aktion mit den Rechnungen aufrufgemäß durchgezogen wird. Dafür sorgt bei Dr. O schon die Zahnartzhelferin, eine blonde kurzhaarige Dame mittleren Alters, die einen resoluten Krankenschwesterntonfall ihr eigen nennen kann. 18 Patienten hat Dr. O an diesem Montag morgen behandelt, und Frau K. hat allen „die Rechnung gleich in die Hand gedrückt“, wie sie erklärt. Gegangen ist daraufhin niemand, allerdings liegt auf dem Tresen auch eine Patienteninformation aus, derzufolge „sich nur der Abrechnungsweg ändern“ soll. „Die Krankenkasse schuldet Ihnen die Bezahlung Ihrer Behandlung, denn schließlich haben Sie mit Ihren Beiträgen einen Leistungsanspruch erworben“, heißt es. Kein Wort davon, daß die Zahnärzte mit den Rechnungen auch im Alleingang ihre Honorare heraufgesetzt haben, daß der Patient womöglich auf den Behandlungskosten sitzenbleiben könnte.
Nur der dezente Hinweis: „Wenn die Krankenkasse hier streikt, trägt sie den Konflikt auf Ihrem Rücken aus.“ Druck auf die Krankenkassen – das sei eben der Sinn der Aktion, meint Frau K. Überhaupt werden ihrer Ansicht nach die Patienten unmündig gehalten, wissen nicht mehr, was die Behandlung kostet, kümmern sich nicht um ihr Gebiß, weil eben „alles umsonst ist“.
Der Zahnarzt in dem Versicherungsbau sieht das nun völlig anders: „Bei der Schmerzbehandlung darf man nicht ans Geld denken“, lautet sein Credo. Helmut Gürlebeck hat am Wochenende – da sollte der Boykott beginnen – in vier Stunden achtzehn Patienten behandelt, und die Daten ihrer Chipkarten sind allesamt in seinem Computer. Beim Staatskommissar, dem Beauftragten des Landes, der jetzt alle Funktionen des Vorstandes und der Vertreterversammlung der KZVN übernommen hat, ist allerdings auch gemeldet worden, daß selbst Patienten mit akuten Zahnschmerzen die Behandlung auf Chipkarte verweigert wurde. Vor allem aus dem Raum Osnabrück sind dort empörte Anrufe eingegangen.
Alles in allem verhielten sich die Zahnärzte doch sehr unterschiedlich. Ein Rundruf bei einem Dutzend hannoverscher Zahnärzte bestätigt dies: Drei Dentisten wollen die Chipkarte auf keinen Fall akzeptieren und nur gegen Privatrechnung behandeln, fünf akzeptieren die gewohnte Kassenabrechnung, und weitere vier speichern erst mal die Daten der Patienten, halten sich aber die Möglichkeit offen, später doch noch eine Rechnung zu schicken.
Staatskommissar Ignaz Jung- Lundberg wird erst heute früh um neun Uhr in das Gebäude der Kassenzahnärztlichen Vereinigung einziehen. Am Donnerstag will er für die oder anstelle der KZVN die Honorarverhandlungen mit den Kassen beginnen. Wenn die schnell zu einem Abschluß führen, könnte der Kassenboykott zusammenbrechen. Mit Sanktionen gegen die Zahnärzte hat sich der Staatskommissar bisher zurückgehalten. Nur die Abschlagszahlung, die die Kassendentisten jedes Quartal im voraus von den Kassen erhalten, könnte bei den Privatabrechnern entfallen.
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