Bundesregierung und Tarifparteien blasen in der zweiten Jahreshälfte 1995 zu einer „Offensive für mehr Selbständigkeit“. Existenzgründungen sollen stärker gefördert werden. Ob sich Eigeninitiative und Risikobereitschaft auszahlen, ist fraglich. Viele Selbständige in Deutschland führen „Kümmerexistenzen“ oder stürzen ab. Von Barbara Dribbusch

Leben vom Prinzip Hoffnung

Das Geschäft mit dem Ausflugsdampfer lief eine Weile gar nicht schlecht. Gutbetuchte Gäste ließen sich in den neun Luxuskabinen über Havel und Müritz schippern. An Bord gab es abends Entenbrüstchen und morgens ein persönliches Hallo vom Kapitän. Der ist jetzt Sozialhilfeempfänger und wohnt auf seinem Schiff, das nicht mehr fährt; es liegt an der Kette mit Hängeschloß und symbolischem Pfändungssiegel am Spreeufer in Berlin-Friedrichshain. „Sicherheit“, philosophiert Pleitier Günther van de Lücht, „die kannst du nur in dir selber finden.“

So romantisch wie van de Lücht gehen zwar die wenigsten pleite. Aber Risiko-Existenzen wie die des Kapitäns und studierten Physikers prägen immer mehr die Erwerbsgesellschaft. 1995 rechnet der Verband der Vereine Creditreform mit einer Rekordzahl von 28.000 Firmenpleiten. Sehr viel mehr ExistenzgründerInnen krepeln mit Niedrigeinkommen herum (s. unten). Auf einige Hunderttausend wird außerdem die Zahl der „Scheinselbständigen“ geschätzt, die vom Ex-Arbeitgeber in die „freie“ Zuarbeit gezwungen wurden und damit meist schlechter dastehen als zuvor.

Dennoch blasen die Bundesregierung und die Tarifparteien jetzt zu einer „Offensive für mehr Selbständigkeit“. Nachdem die „Teilzeitoffensive“ im vergangenen Jahr kaum zusätzliche Jobs gebracht hat, wollen Politik und Tarifpartner die „Kultur der Selbständigkeit“ stärken und damit „neue Beschäftigungspotentiale erschließen“. So lautet eine jüngst verfaßte gemeinsame Erklärung von Regierung, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften. Wer Anspruch auf Arbeitslosengeld hat und ein Unternehmen aufmacht, soll seinen Anspruch nicht wie bisher zwei, sondern nun vier Jahre lang behalten. Die Bundesregierung will Beteiligungskapital für kleine Technologieunternehmen mobilisieren. Der Zugang zu Risikokapital soll erleichtert werden. „Die Bedeutung von Risikobereitschaft und Eigeninitiative“ müsse „aktiv und offensiv vertreten“ werden, heißt es in der Erklärung, die nach dem jüngsten Kanzlergespräch formuliert wurde.

Risikobereit war auch Günther van de Lücht, nur seine Bank hielt nicht soviel von gewagten Unterfangen. Als ein schwerer Maschinenschaden einen zweiten Kredit erforderte, streikte das Geldinstitut. Zwei schwierige Jahre folgten. Schließlich kündigte die Bank den alten Kredit. Heute ist van de Lücht pleite, aber immerhin Vorsitzender des Beratungsvereins „Ausweg“ für gefährdete ExistenzgründerInnen und Buchautor. „Die eine Million Mark Schulden sind für mich kein Thema“, behauptet der 58jährige, „die werde ich in meinem Leben sowieso nicht mehr zurückzahlen können.“

So souverän sind die wenigsten. „Eigentlich gibt es nur zwei Arten von Selbständigen“, glaubt Petra Weber-Yildirim. „Die einen verfallen in Apathie, das sind leider die meisten. Die anderen kämpfen – so wie ich.“ Die 40jährige Amerikanistin und weitergebildete Computerexpertin gründete vor fünf Jahren in Berlin ihre „Melas Gmbh“ für EDV-Beratung und -Weiterbildung. Mit zehn Angestellten entwickelte die resolute Selfmade-Frau Programmdesigns für Warenwirtschaftssysteme – ihr Hauptkunde war IBM.

„Der tollste Erfolg war ein 500.000-Mark-Auftrag, den ich der männlichen Konkurrenz weggeschnappt hatte.“ Damals konnte sie ein Einkommen von 10.000 Mark im Monat verjubeln. Damit ist erst mal Schluß. Heute bringt es die Akademikerin in einer 70-Stunden-Woche gerade mal auf 2.000 Mark netto. Abends tobt sich Weber-Yildirim an ihrem Sandsack aus, der zu Hause im Flur hängt. „Da stelle ich mir vor, das sei meine Kreditsachbearbeiterin.“ Die hat ihr vor drei Monaten die Finanzierung gekündigt.

Als IBM in Schwierigkeiten geraten war, hatte der Konzern erst mal bei den Zulieferern gespart, auch bei der Melas Gmbh. Die Unternehmerin mußte ihre Angestellten bis auf zwei MitarbeiterInnen entlassen. Die Bilanzen von 1992 und 1993 fielen schlecht aus. Für neue Hardware aber mußte sie einen Kredit aufnehmen. Der wurde ihr jetzt vorzeitig „fälliggestellt“, gerade als die Geschäfte wieder besser liefen. Jetzt hofft die Unternehmerin auf eine Einigung über neue Ratenzahlungen. „Sonst bin ich pleite.“

Den Nervenstreß mit Banken, die bei KleinunternehmerInnen besonders leicht die Kredite kündigen, wollte sich Jürgen Braune gar nicht erst antun. „Ich arbeite halt ohne Gehalt“, erzählt der 50jährige Berliner Filmproduzent. Sein sauer verdientes Geld wird sofort in die Technik gesteckt. Die Ehefrau, im öffentlichen Dienst angestellt, sorgt für den Lebensunterhalt. In zwei kleinen Ladenräumen in Berlin-Lichtenberg unterhält der Einzelunternehmer seine Videoproduktion „Libelle“. Früher beim Wohnungsbaukombinat als Dokumentar- und Lehrfilmer beschäftigt, wurde Braune bald nach der Wende arbeitslos. „Mir blieb nichts anderes übrig als die Selbständigkeit. Wer hätte mich denn haben wollen?“

Mit zuerst nur geleaster Videotechnik suchte sich Braune seine Marktlücken. „Videos von Incentive-Reisen“, erzählt er, „diese Idee war mein Glück.“ Ein Versicherungsunternehmen, das regelmäßig Top-VerkäuferInnen mit kurzen Incentive-Reisen prämiert, schickt Braune jetzt fast immer mit. In Island oder Prag hält er dann Kirchenaltäre, Landschaften und vor allem die TeilnehmerInnen selbst fest; jeder muß gut ins Bild. Am Ende kommen spielfilmähnliche Videos heraus, in denen die Top-VerkäuferInnen zu Gema-freien Streicherklängen aus Luxushotels schreiten oder unter Trommelklängen durch tropische Gärten schleichen. „Das hat hohen Erinnerungswert und ist damit auch im Sinne der Firma.“ Braunes zweite Marktlücke: „Ich dokumentiere Abrisse.“ Im Auftrag von Bauunternehmen filmte er den Abriß des Interhotels in Magdeburg, die Sprengung eines Schornsteins im mecklenburgischen Güstrow und die Abtragung der Rüdersdorfer Brücke.

Auch wenn sich die Honorare zwischen 2.000 und mehreren zehntausend Mark bewegen, unterm Strich kommt bei seiner Siebentagewoche „wenig heraus“. Denn ein Gutteil seiner Arbeitszeit verbringt der Einmann-Produzent mit Angeboteschreiben: Offerten, die den Anfrager nichts kosten und Braune meist nichts einbringen. Zehn zu eins sei das Verhältnis von Angebot zu erteiltem Auftrag. „Da bleibt oft nur das Prinzip Hoffnung.“

Vom Prinzip Hoffnung leben viele ExistenzgründerInnen. Trotzdem – oder vielleicht sogar gerade deshalb – will keiner der Befragten wieder als Angestellter jobben. „Da würde ich leiden wie ein Hund“, sagt Petra Weber-Yildirim. Denn vielleicht, wahrscheinlich oder ganz sicher kommen wieder bessere Zeiten. Auch für van de Lücht übrigens. Der hatte nämlich noch vor der Kreditkündigung die gesamten Einbauten seines Luxusschiffes den Mitarbeitern „sicherheitsübereignet“, weil er der fünfköpfigen Besatzung vorübergehend kein Gehalt zahlen konnte. Als die Bank zur Zwangsversteigerung des Schiffs schreiten wollte, fanden die Gutachter nur noch einen leeren Kahn mit Kapitänskajüte vor. Mobiliar, Sanitäranlagen und Beleuchtung waren herausgerissen und von der Mannschaft an einen unbekannten Ort verfrachtet worden. Ein ehemaliges Besatzungsmitglied hat nun das Kapitänspatent gemacht. Kann gut sein, daß demnächst von irgendwo ein neues Fahrgastschiff startet. Vielleicht mit den Einbauten aus van de Lüchts Kahn. Vielleicht sogar mit van de Lücht selbst als „freiem Mitarbeiter“ auf der Kommandobrücke, schließlich will er der neuen Kapitänin „mit Rat und Tat“ zur Seite stehen.