: Straßenkinder und der falsche Straßen-Hamlet
■ Im Schlachthof: Heute spielen 14 brasilianische Jugendliche Hamlet, wie sie ihn verstehen
12.000 Straßenkinder leben in der 2,3-Millionen-Metropole Salvador an der Ostküste Brasiliens. Kaum eines von ihnen hat Aussicht auf ein Dach über dem Kopf, geschweige denn auf einen Job. Die soziale Mobilität ist gering im Schwellenland Brasilien. Staatliche Erziehungsanstalten erfreuen sich keines guten Rufes, dienen vor allem dem Wegschließen der in der Regel völlig desillusionierten Kids. Die sind dort vor Übergriffen durch Wärter oder Leidensgenossen ebenso wenig sicher, wie sie es auf der Straße sind.
Wie stellt man das Leben der Straßenkinder auf der Bühne dar? Und warum eigentlich? Verschiedene Antworten. Einmal, weil das Goethe-Institut in Salvador/Bahia den Tübinger Regisseur Volker Quandt und die brasilianische Dramaturgin Vera Achatkin einlud, um ein Theaterprojekt über die Situation der Straßenkinder zu entwickeln. Die beiden trafen Maria-Eugenia Milet, Leiterin der Theatertruppe „Nossa cara“ (“Unser Gesicht“). Deren 16-22jährige Laien-Schauspieler hatten bereits zwei Projekte hinter sich: Aufklärungstheater mit erzieherischem Inpetus; um Schwangerschaft in der Pubertät etwa ging es in einem der „Nossa Cara“-Projekte.
Jetzt sind „Nossa Cara“ bereits zum zweiten Mal auf Deutschland-Tournee und zum ersten Mal in Bremen. Gezeigt wird „Straßen-Hamlet“, frei nach Shakespeare und dem „Saxo Grammaticus“, dem Ur-Hamlet aus dem 13. Jahrhundert. Die Handlungsstrukur blieb erhalten, das Milieu wurde auf die Straße verlegt, die Sprache mal dem underdog-Slang angepaßt, mal klassisch belassen. Schwierigkeiten, die Kriegssituation zwischen Dänemark und Norwegen zu aktualisieren, wurden gelöst, indem man die Polizei zum Gegner der Kids erklärte. Denn die ist in Salvador oder Sao Paulo kein Freund und Helfer, sondern unterbezahlt, bestechlich und skrupelloser Schutzgeldeintreiber.
Warum gerade Hamlet? Das Stück behandelt universale Menschheitsfragen und außerdem die Gewaltproblematik, erklärt Vera Achatkin. In Salvador ist das Stück mit großer Resonanz gelaufen. Echte Straßenkinder saßen im Zuschauerraum neben zahlenden Erwachsenen und gaben zu, zitiert Vera Achatkin: das Stück zeigt, wie es wirklich auf der Straße zugeht.
Damit es keine Mißverständnisse gibt: Die „Nossa Cara“-Truppe rekrutiert sich nicht aus Straßenkindern. Jugendliche aus ganz verschiedenen Milieus sind dabei, die in einem vorausgegangenen Workshop „viel über Straßenkinder gelernt“ haben. Zum Beispiel Amaranta Cézar, 20, und Washington José, 21. Amaranta spielt die Horácia, eine Verkäuferin, im „Straßen-Hamlet“ und studiert im richtigen Leben Kommunikationswissenschaften; Washington gibt den Cruz (im Original Rosencrantz), er macht gerade sein Abitur.
„Die Straßenkinder gehören zu unserem Alltag; sie unterscheiden sich gar nicht so sehr von uns“, sagen die beiden. Nach den Aufführungen in Salvador war die Bühne zu ihrem zweiten Zuhause geworden. Die echten Straßenkinder konnten den ganzen Text des „Straßen-Hamlets“ auswendig, haben sich unters Publikum gemischt und sahen in ihren falschen Kollegen echte Konkurrenz: Kauft bei uns Erdnüsse, wir sind die echten Straßenkinder, haben sie sich beklagt.
Auch bei ihrer ersten Deutschland-Tournee gab es einhellige Begeisterung über den ins soziale Abseits verlegten Hamlet-Stoff.
Amaranta und Washington haben am Theater den Narren gefressen: Daß nächste Projekt ist noch nicht klar, aber dabei bleiben wollen sie auf jeden Fall.
Alexander Musik
Schlachthof, 20.30 Uhr
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