Can You Feel the Years?

Auch im 25. Jahr war Roskilde zwischen Geheimtips und großen Namen ein entspanntes und durchaus zeitgenössisches Ereignis  ■ Von Jörg Häntzschel

„Can you feel the years? It's old, old!“ ruft Jimmy Page beschwörend in die Menge von 50.000 Besuchern, bevor er eine alte Woodstock-Nummer anstimmt. Page & Plant, die „resurrected dinosaurs“ (Programmheft), haben die alten Led-Zeppelin-Songs mit Ethno- Curry aus Marokko versetzt und begeistern ein Publikum, das beim ersten Roskilde-Festival noch nicht einmal geboren war. 1971 als dänisches Kind der Woodstock- Generation geboren, feierte Roskilde vergangenes Wochenende sein 25jähriges. Beim ersten Mal kamen knapp 10.000, dieses Jahr drängten sich 110.000 Leiber auf der 50 Kilometer von Kopenhagen entfernten Koppel, wo sonst Rinder versteigert werden.

Altrocker-Melancholie kam dennoch nur bei wenigen Acts (wie dem von Van Halen) auf. Mit dem breiten Spektrum vom großen Namen bis zum Geheimtip bleibt das Festival immer auf der Höhe der Zeit. Selbst städtische Techno- Kids kommen da mal aus ihren Bunkern und lassen sich auf der Iso-Matte vor dem Zelt bräunen.

Das Festivalgelände ist eine Mischung aus Westernstadt und Karawanserei: ein improvisierter Shuttle-Bahnhof, lange Reihen bunt bemalter Buden, knatternde Fahnen, gleißende Sonne und abends auf dem zertrampelten Prärieboden an kleinen Feuern lagernde Grüppchen bis zum Horizont. Die auf das Gelände Drängenden kommen nur langsam voran: am Gürtel zerren sie keuchend, aber glücklich Bierkästen durch den Staub, die sie sich morgens noch in den Roskilder Supermärkten gesichert haben.

Nachdem das Festival in den letzten Jahren immer größer wurde, wurde die Zahl der Tickets diesjahr auf 90.000 begrenzt. Das Gelände wurde um ein Drittel vergrößert und zusätzliche Helfer engagiert. Das neu eingeführte Trennsystem war allerdings Müll. Bisher bekannt für beste Stimmung, aber berüchtigt für Chaos, ist Roskilde nach Jahren der ungezügelten Expansion auf dem Weg der Perfektionierung. Einige trauerten den lustigen Schlamm- , Staub- und Urinschlachten nach und ärgerten sich über Anzeichen der Verbürgerlichung. Sponsor Esprit sicherte sich einen Paradestandort, um morgens im Schatten umweltfreundlicher Pullover sterilen Brunch zu servieren: „Take a bath. Wear a condom.“ Doch auch dieses Jahr gab es noch Dreck genug. Jens aus Fuhlsbüttel meinte aber, er habe „im Zivildienst Schlimmeres gesehen“.

Die Eltern mögen noch im großen Gemeinschaftserlebnis aufgegangen sein; heute verlangt der Musik-Supermarkt mit 140 Bands auf sieben Bühnen zwischen Donnerstag mittag und Sonntag nacht dem Publikum eine Technik ab, die es beim Kabelfernsehen gelernt hat: Zapping. Die Veranstalter setzten Top-Acts bewußt parallel an, um die Leute zu verteilen. Und doch reißen die Wanderbewegungen nie ab. „Schaffen wir es in fünf Minuten von Van Halen zu den Cranberries? Okay, wir nehmen die Abkürzung durchs Pressedorf.“ Das Massive Attack Sound System eröffnet das DeeDay-Zelt, wo vier Tage lang jüngere Dancefloor-, Hip- und TripHop-Bands im Wechsel mit DJ-Einsätzen spielen, enttäuscht aber.

Auf dem Weg zur Carlsberg- Biertränke bleibt man vorübergehend bei REM hängen (deren Standardshow auf dem riesigen Platz vor der orangefarbenen Bühne verpufft). Warum nicht zum Caspar Brötzmann Massaker, wenn Neneh Cherry zu spät kommt? Oder nach dem wunderbar luftigen Acid Jazz von Incognito zum trockenen Hardcore von Weezer nebenan, während langsam die Sonne sinkt? Gegen fünf Uhr morgens wankt man berauscht von den britischen Techno-Hippies Eat Static und den technoid triphoppenden Chemical Brothers Richtung Schlafsack. Ohne die gelben Ohrstöpsel hört man auch wieder die Möwen schreien, die in großen Schwärmen unter dem fahlen Morgenhimmel kreisen. Vereinzelt liegen Schlafende herum, die letzten Tetrapaks werden ins Feuer geworfen, bald wird der Konzert-Müll von den großen Staubsaugern entfernt, und der nächste Tag kann beginnen.

Achtzig Prozent des Publikums sind aus Skandinavien, das Programm dominieren englische und amerikanische Bands. Brit Pop rules okay: Blur, Suede und Oasis überfüllen die Zelte und schicken Mädchen reihenweise in die Ohnmacht. Auf solides musikalisches Handwerk bei alten Hasen wie Paul Weller oder den Neville Brothers kann man sich verlassen. Elvis Costello, gern gesehener Dauercamper in Roskilde, darf viereinhalb Stunden bestreiten mit so unterschiedlichen Musikerkollegen wie Alt-Blondie Debbie Harry, den Jazz Passengers, dem Brodsky Quartett und Marc Ribot. Grandpa Bob Dylan, rüstig wie ehedem, zwingt mit seiner Mundharmonika gleich drei Generationen in seinen Bann.

Shane MacGowan (Popes statt Pogues) hingegen klopft schon heftig an die Himmelstür. Die Spannkraft ist hin, aber die Stimme trägt noch immer. Irland ist in: Sinead O'Connor wie auch die Cranberries beeindrucken mit großen Stimmen und erzeugen die intimsten Momente des Festivals. Spearhead, Freak Power und Shootyz Groove ziehen undogmatisch alle Register schwarzer Musik und sorgen schon am Nachmittag für dampfende Zelte. The Roots verwiesen Ice „Motherfuckin'“ T, der in abgestandener Revoluzzer- Pose fluchend auf der Bühne herumtappte, endgültig in die A(n)nalen der Musikgeschichte.

Und zwischen den Konzerten? Man regelt den Øl-Nachschub, stärkt sich mit Ethno-Food und läßt den Blick schweifen. Oder man schickt vom Amnesty-Stand mal schnell ein Protest-E-Mail an Boris oder Bill (der dann auch brav zurückgrüßt), hüpft ein wenig beim Roskilder Volleyball-Club mit oder streift die diversen Ladenstraßen entlang: Feilgeboten wird das internationale Standard-Repertoire aus Kunstgewerbe, Second-hand-Platten, Clubwear und bekloppten Filzzylindern. „Shock your parents with a temporary tattoo“, wirbt ein Stand, aber die Boys and Girls haben ja schon fast alle mindestens ein richtiges. Die Eltern finden's prima.

Zwischendrin überall mehr oder weniger spontane Happenings: Eine Domina mit blutigen Verbänden und Kinderwagen stolziert über den Platz, ihren Ledermann an der Kette. Die Tambours du Bronx rollen ihre Ölfässer mal wieder irgendwo anders hin. Ein Haufen Putzfrauen in Nylonkitteln fordert den Männern ein Tänzchen ab. Im Chill-out-Zelt hängt man Fruchtsaft nippend in den Sandsäcken, während Seifenblasen zum Sitar-Geklimper aufsteigen; das Programm im Cabaret-Zelt beibt Nicht-Einheimischen leider verschlossen. Das „Super-Sex-Zentrum“ beschränkt sich auf Aids- Beratung. Das Beiprogramm, so Organisator Leif Skov im Ton eines Katastrophenhilfe-Managers, sei nicht zu unterschätzen: „Wenn die Leute nichts zu tun haben, beginnen sie zu randalieren.“

Die friedliche Stimmung ist aber auch 15.000 ehrenamtlichen Helfern zu verdanken, die sich hier mit 24 Stunden Arbeit ihren Festivalpaß verdienen. Statt der üblichen Gorillas stehen in Roskilde lächelnde Hausfrauen im Graben vor der Bühne und kühlen mit Wasser. Polizei ist kaum zu sehen. Überschüsse werden sozialen Projekten zur Verfügung gestellt.

Um nicht in der Masse unterzugehen, organisieren sich die Festival-Profis in Stammesstrukturen. Die am Camp gehißten Fahnen werden tagsüber auf dem Platz spazieren getragen und bei den Konzerten heftig geschwenkt. Das verleiht Identität, und man verliert sich nicht. Da flattert der rote Che Guevara einträchtig neben dem Mercedes-Stern, die ölbefleckte Shell-Muschel neben dem Esso- Logo. An einer Stange erigiert ein Nylonstrumpf-Penis munter auf und ab. König Alkohol herrscht umfassend, aber milde. Vereinzelte Bierleichen, stark verharnte Wände und Bäume. Einige Bewohner der VIP-Area haben sogar Freibier-Sticker, so auch unsere Journalisten-Nachbarn von Det Fri Aktuelt. Nach einer deliranten Slapsticknummer auf Zelt und Tisch führen sie uns freundlich vor, wie man das Apple Powerbook als Flaschenöffner verwendet.

Spätestens nach zwei Tagen gerät die Welt draußen allmählich in Vergessenheit. Der kleine Festival-Staat findet zu gelassener Routine, und die ununterbrochen scheinende Sonne macht die Menschen noch schöner. Es könnte noch ewig so weitergehen. Das Schlußmotto liefert Incognito am Sonntag abend: „Still a friend of mine ...“ Swingend lösten sich die Massen widerwillig auf. Wäre doch das ganze Leben ein Festival!