Nicht immer, aber immer öfter: Cannabis statt Pillen

■ Die verbotene Medizin kann Aids- und Krebspatienten helfen, nur die bornierte Drogenpolitik blockiert in Deutschland den Einsatz von Cannabis als Heilmittel

Auf der Aids-Station eines bekannten Berliner Krankenhauses riecht es bisweilen ganz vorzüglich. Und alle wissen warum: Die Patienten kiffen. Auch auf der Krebsstation einer Hamburger Klinik wehen aromatische Düfte durch die Gänge. Bei Schwerkranken helfen auch schon mal die Pfleger und bauen dem Patienten einen Joint. Aber nicht nur in Krankenhäusern, auch in deutschen Arztpraxen empfehlen die Behandler immer öfter statt Pillen und Tabletten den Einsatz von Cannabis.

Jeder einzelne Arzt riskiert dabei seine Zulassung, denn auch der medizinische Gebrauch von Hanf ist in Deutschland nach wie vor verboten. Eines der ältesten Heilmittel der Menschheit steht noch immer auf dem Index. Zugleich ist die medizinische Fachliteratur voll von Berichten über die segensreichen Wirkungen der Pflanze. In der Juni-Nummer des angesehenen Journal of the American Medical Association hat der Harvard- Professor Lester Grinspoon noch einmal die wichtigsten Einsatzfelder zusammengetragen. Danach hilft Cannabis:

– in der Chemotherapie bei Krebspatienten. Brechen und Übelkeit werden reduziert. Die Patienten fühlen sich besser und psychisch stabiler;

– als Appetitmacher bei Aidspatienten, die häufig in wenigen Wochen sehr viel Gewicht verlieren. Zugleich kann es die Stimmung verbessern und Durchfällen entgegenwirken. Patienten, die das antivirale Mittel AZT nehmen, vertragen es häufig besser, wenn sie zugleich Cannabis rauchen;

– zur muskulären Lockerung bei Verspannungen und Krämpfen. Auch bei Menstruationsbeschwerden kann ein Joint nützen;

– als mildes Schmerzmittel bei Gliederschmerzen, Migräne und chronischen Schmerzzuständen;

– als Schlafmittel;

– gegen Grünen Star (Cannabis senkt den Augen-Innendruck).

„Immer mehr Ärzte und Patienten“, schreibt Grinspoon, „lernen jetzt die Lektionen des 19. Jahrhunderts.“ Allein zwischen 1840 und 1900 seien in den Medizin- Fachblättern mehr als 100 Berichte über den medizinischen Einsatz von Cannabis publiziert worden. Doch der unerbittliche Feldzug gegen die gesellschaftliche Droge hat auch gleich die medizinische Anwendung gestoppt. Während heute in Tausenden von Praxen synthetische Arzneimittel mit schwersten Nebenwirkungen und Risiken locker verschrieben werden, wird der Einsatz von Cannabis hartnäckig blockiert. Das fast 5.000 Jahre alte Wissen über dieses Arzneimittel sei in Europa und Amerika „fast vergessen“ worden, schreibt Grinspoon.

Die Ärzte wollen sich mit diesem Zustand nicht länger abfinden. Die US-Ärztegesellschaft AMA hat erneut einen Vorstoß zur Legalisierung von Marihuana unternommen. In den USA ist zwar der isolierte Cannabis-Wirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC) als Arzneimittel erhältlich. Allerdings ist das Mittel extrem teuer, seine Anwendung stark eingeschränkt. Auch in der bundesdeutschen Ärzteschaft gibt es Anstrengungen zur medizinischen Legalisierung. Der Berliner Arzt und Aids-Spezialist Jörg Claus hat jetzt gemeinsam mit der Deutschen Aids-Hilfe eine Befragung von HIV-Schwerpunktpraxen initiiert, um Daten und Fakten zum Einsatz von Cannabis bei Aids-Patienten zu sammeln.

Zugleich wird ein Meeting von Wissenschaftlern, Ärzten und Juristen vorbereitet, das im Oktober in Berlin stattfinden wird. Zielsetzung: den – meist ängstlichen – Ärzten Mut machen. Gleichzeitig soll Cannabis „entmystifiziert werden“ (Claus) und ein realistisches Bild von den Einsatzmöglichkeiten und Nebenwirkungen der Pflanze gezeichnet werden. Zusätzlich soll der Kongreß die politische Diskussion neu beleben.

Claus kritisiert die „gnadenlose Ebene der Irrationalität“, mit der ein medizinisch sinnvoller Einsatz von Cannabis gegenwärtig verhindert wird. Viele Patienten in der Chemotherapie würden die gängigen Mittel gegen Übelkeit einfach nicht vertragen. Diesen Menschen dürfe Cannabis als sinnvolle Alternative mit „vergleichsweise milden Nebenwirkungen“ nicht verweigert werden. Die Drogenpolitik dürfe nicht länger die medizinische Anwendung blockieren.

Längst läuft diese Politik der Wirklichkeit hinterher. Wenn immer mehr Ärzte bereit sind, sich über die engstirnig-ideologischen Verbote hinwegzusetzen, werden, auch in der medizinischen Anwendung von Cannabis, Fakten geschaffen und Freiräume erkämpft. „In deutschen Krankenhäusern“, flachste kürzlich ein HIV-Patient, „darf nie wieder ein Joint ausgehen.“ Manfred Kriener