Neulich auf einer Veranstaltung Von Viola Roggenkamp

Im Saal etwa zweihundert Frauen. Hinten regelte eine türkische Familie den Thekenbetrieb. Vorn auf dem Podium: eine am Mann interessierte Philosophieprofessorin. Neben ihr eine ostdeutsche Jüdin mit Doktortitel und Forschungsauftrag, von der aber nicht gesagt werden mochte, daß sie Jüdin war. Dann eine in Deutschland geborene Türkin mit Wirtschaftsdiplom, die sich darüber beschwerte, immer als Türkin eingeladen zu werden; dazu eine grüne Politikerin in gedecktem Karrieregrau, eine lesbische Sozialpädagogin, der das alle ansahen, sowie eine mit sich selbst zufriedene Hochschulpräsidentin nebst Pensionsanspruch, den ihr keine ansah. In der Mitte meine Freundin. Die Moderatorin. Es war Sonnabend morgen.

Wir hatten einander „gut Schabbes“ zugeflüstert. Wir sind es nicht gewohnt, uns so etwas laut zuzurufen. Das erschreckt sonst die anderen, reden wir uns ein. Sie eröffnete das Podium und sprach auf einmal von der „feministischen Mischpoche“. Daß sie das jiddische Wort benutzte, tat sie für mich und für sich, und als sie es noch einmal wiederholte, tat sie es für die anderen, denn sie sagte: Mischpoke. Hatte ich mich verhört? Hatte sie Mischpoche etwa mit einem gojischen k ausgesprochen, statt mit dem kehligen ch-Laut? Sie errötete. Ich hatte mich nicht verhört.

Später im Restaurant sagte sie: „Als ich es das zweite Mal aussprechen wollte, habe ich mich plötzlich geniert. Du kennst das.“ Ich kenne das. „Die anderen werden denken, dachte ich, was gibt die denn so an mit ihrem Jüdischsein? Und darum habe ich es beim zweiten Mal lieber falsch ausgesprochen. Die anderen mögen es nicht so jüdisch.“

Zwischen uns stand die ewige Frage vieler deutscher Juden: Muß Assimilierung vorsichtshalber zur Eindeutschung führen? Da kam der indische Ober mit dem Essen. Vegetarisch. Und darum sogar koscher. Daß es uns darauf ankäme, könnten wir nicht behaupten. Aber warum immer verschweigen vor den anderen? Womöglich wissen die gar nicht, daß sie Mischpoche völlig meschugge aussprechen.

Das jiddische Wort heißt Familie. Mehr nicht. Es kommt vom Hebräischen: mischpacha. Chuzpe, schachern, Tacheles – Wörter, die von den Deutschen geläufig und mit kehligem ch ausgesprochen wurden. Bis zum 1. Januar 1933. Auch Mischpoche. Es kamen die Jahre ohne Mischpoche. Sie verschwand. Auf welche Weise, konnte nachher niemand sagen. Hatte man es überhaupt mitbekommen? Man erinnerte sich nicht. Als die Mischpoche in Deutschland wiederauftauchte, kam sie aus Amerika zurück und schrieb sich Mishpokhe. Nach englischer Lautschrift ist kh auszusprechen wie ch, während englisch ch bekanntlich wie Tschilli und Tschaild klingt. In Deutschland wurde diese Mishpokhe als amerikanischer Import verfälscht zu Mischpoke. Aus Unwissenheit oder aus Bewältigung? Als hätte man mit der Mischpoche nie zu tun gehabt. Während nachweislich viele Chinesen kein R sprechen können und Russen nach einem Endsieg der Deutschen zwangsläufig hätten „Geil Gitler“ sagen müssen, weil ihnen das H nicht so aus dem Halse will, können die Deutschen das. Doch! Daß sie nicht zur Mischpoche gehören? Dafür können sie nichts.