Die Stimmen und die Macht

Medien im Zentrum des Nationalsozialismus: Marcel Beyers Roman „Flughunde“  ■ Von Martin Pesch

Marcel Beyer entwarf mit seinem ersten Roman „Das Menschenfleisch“ (1991) ein Wörterbuch des Begehrens. Über Liebe wurde im Zitat oder in Geheimsprache geredet, Sex war der Verkehr von Körperschatten. Der Ich- Erzähler scheiterte daran, sich und der Geliebten die Liebe zu erklären. Die Sprache wurde monströs und die Körper zu Nichts.

Verfolgte Beyer damit noch die Unmöglichkeit von Kommunikation anhand einer intimen Beziehung, stößt sein neuer Roman in eine konkrete politisch-historische Situation vor: den Nationalsozialismus und die letzten Monate des Zweiten Weltkrieges. Wieder ist gestörte Kommunikation das Thema, diesmal die vom Machtzentrum her deformierte. Alles Störende wird eliminiert, jede nicht vom Zentrum der Macht kommende Information ist gefürchtetes Rauschen und muß unterdrückt werden. So beginnt Beyers Roman: „Eine Stimme fällt in die Stille des Morgengrauens ein: Zuerst Aufstellen der Wegweiser.“

Todesnachrichten aus dem Führerbunker

Die Stimme, mit der dieser Roman einsetzt, ist die Hermann Karnaus. Marcel Beyer hat sein Personal diesmal aus der Geschichte geliehen. Karnau gehörte zu Hitlers letzten Getreuen im Führerbunker und überbrachte den Alliierten die Nachricht von dessen Tod. Im Roman ist Karnau Akustiker, ein Laut- und Stimmforscher. Dienstlich hat er es mit der Perfektionierung der Aufnahme-, Verstärkungs- und Archivierungstechik zu tun, durch die Reden der Naziführer übermittelt und aufbewahrt werden. Privat ist er ein Sammler menschlicher Laute und verfolgt den Plan, eine Karte anzulegen, auf der alle vom Menschen hervorgebrachten akustischen Äußerungen festgehalten werden. Das politische System, angewiesen auf die Omnipräsenz der von ihm ausgehenden Stimmen, ermöglicht es Karnau, sein eigentliches Interesse, dem Geheimnis der menschlichen Stimme auf die Spur zu kommen, in den Dienst der Politik zu stellen. So wird er zum Akustiker des Todes.

Über seinen Einsatz bei der „Entwelschung“ des Elsaß und seinen Frontdienst, bei dem es gilt, die Laute sterbender Soldaten aufzuzeichnen, verdient er sich Meriten, bei einem Fachkongreß legt er seine Ansichten dar, wie den überfallenen und okkupierten Völkern das deutsche Wesen beizubringen sei. Das ginge nicht mehr, meint Karnau, durch Sprachlernprogramme und Berieselung mit deutschen Liedern, „wir müssen jeden einzelnen greifen, wir müssen in das Innere der Menschen vordringen“. Seine Ansichten erregen Aufmerksamkeit, eine Abteilung wird gebildet, die praktisch erforschen soll, wo der Ursprung der menschlichen Stimme liegt und damit der Ursprung „der Verbindung von Innen nach Außen“.

An KZ-Häftlingen wird dann später durchgeführt, was Karnau am Anfang seiner Forschungen am Küchentisch noch an Rinder- und Pferdeköpfen zu finden suchte: Irgendwo zwischen Zungenspitze und Kehlkopf sei die anatomische Wurzel des sprachlichen Bewußtseins, und wer die finde, so die Annahme, habe Zugang zum Inneren des Menschen und könne es manipulieren.

Wie Beyer Karnaus Stimme die aufgezeichneten Laute sterbender Soldaten und gequälter Gefangener im Laufe des Romans beschreiben läßt, das erfordert einen standhaften Leser. Beyer zeigt, wie genau die sich im Dienst der Wissenschaft wähnende Wahrnehmung im Verfolgen ihrer Ergebnisse ist und wie stumpf und brutal gegenüber den beteiligten Menschen. Die Stimme Karnaus verschafft dem dreißigjährigen Autor Distanz zu dem von ihm geschilderten Leid.

Über sich selbst sagt Karnau, gebe es nichts zu berichten, und er vergleicht sich mit dem Stück Blindband, das vor dem beschichteten Tonband liegt. Seine ganze Wahrnehmung ist durch Begriffe der Lauterzeugung und -konservierung geprägt. Er befindet sich ständig an der „Hörfront“, Menschen bezeichnet er als „Schallquelle“ oder „Resonanzkörper“. Da fragt man sich natürlich, warum dieser Mann so von seiner akustischen Umgebung besessen ist, daß es ihm gerechtfertigt erscheint, jemanden zu erwürgen, der einen Zischlaut von sich gibt. Natürlich erst nachdem dieser Laut aufgenommen ist: „ein Nase-Hochziehen, von der Schallquelle achtlos dahingeschneuzt, doch auf der Platte gnadenlos gespeichert“. Es gibt einige Schilderungen Karnaus, Bemerkungen über seine Kindheit, die Ansätze für eine Beantwortung dieser Frage vorgeben können. Da ist sein Schrecken, als er als Kind die Aufzeichnung seiner eigenen Stimme hört, und sein Kennenlernen der Flughunde, deren Existenz so fernab der menschlichen Lebensweise liegt. Dem Kind erscheint, dies hänge mit ihrer akustischen Orientierung zusammen.

Karnau ist einsam. Er lebt mit seinem Hund. Während er die Lautsprecher für eine große Naziveranstaltung installiert, beobachtet er den Aufmarsch einer HJ- Gruppe – froh, aus diesem Alter heraus zu sein und die Tortur der Disziplinierung nicht mehr durchmachen zu müssen. Er stellt teilnehmende Fragen: „Wie können diese Kinder noch vor Tagesanbruch solch ein schrilles Organ über sich ergehen lassen, ohne auch nur einmal zu mucksen?“

Als Hitler die letzte Schokolade aß

Die andere, im Wechsel mit Karnaus im Roman zu hörende Stimme, ist die von Helga, der ältesten Tochter Joseph Goebbels', dessen Name – wie die anderer historischer Figuren – gleichwohl nicht genannt wird. Ihr Monolog beginnt an dem Tag, an dem das sechste Kind der Familie geboren wird. Etwas konstruiert mag erscheinen, daß Karnau, der durch seine Arbeit das Vertrauen des Ministers gewann, für einige Tage die fünf Kinder beherbergen muß, während Mutter noch im Wochenbett liegt.

Ganz reizvoll ist dabei, die wechselnden Perspektiven zu verfolgen zwischen den Schilderungen dieses seltsamen Zusammenseins des einsamen, verschlossenen, in seiner Forschung vergrabenen Mannes und des achtjährigen Mädchens. Durch ihre Stimme wird einiges von der Normalität des Goebbelsschen Haushalts mitgeteilt: die immer kranke Mutter, der strenge, aber gute Vater.

Ein Höhepunkt des Romans ist die Sequenz, in der Helga die Atmosphäre während einer Rede ihres Vaters beschreibt (offensichtlich ist es die „Sportpalast-Rede“) und ihre Schilderungen verschnitten sind mit denen medizinischer Versuche, an denen Karnau beteiligt ist.

Die sechs Kinder und Karnau kommen wieder in näheren Kontakt während der letzten Wochen des Krieges, als die gesamte Familie in den Führerbunker geflüchtet und Karnau damit beauftragt ist, die Äußerungen Hitlers aufzunehmen und zu archivieren. Auch in diesem Teil des Romans kann Beyer mit wenigen Strichen ein dichtes Bild der Situation schaffen: das ewige künstliche Licht, das Versiegen der Schokolade, von der sich Hitler ausschließlich noch ernährt, die Spiele der Kinder, die gereizte Stimmung beim Eintreffen der immer schlechter werdenden Nachrichten. Doch das alles wird nie zu einem auf historische Authentizität zielenden Panorama. Atmosphärische Elemente bleiben karg in dem fiktiven Gerippe, das von Karnaus Tätigkeit bestimmt ist, die menschliche Stimme aufzuzeichnen.

Ein Zeitsprung in das Jahr 1992, in dem in einem Kellergewölbe des Dresdner Hygienemuseums ein bisher unbekanntes Schallarchiv gefunden wird, bringt Karnau, der nach Kriegsende untergetaucht war, wieder in Kontakt mit seiner Vergangenheit. Mittels der Schallfolien rekonstruiert er die letzten Tage im Führerbunker. Dabei entdeckt er auch eine Folie, die nicht von ihm aufgenommen wurde. Auf ihr sind die Geräusche jener Nacht fixiert, in der die sechs Kinder von ihrer Mutter mit Gift getötet wurden: „Das Atmen von sechs Kinderlungen in versetztem Rhythmus. Es läßt an Intensität und Lautstärke nach. Schließlich ist gar nichts mehr zu hören. Es herrscht absolute Stille, obwohl die Nadel noch immer in der Rille liegt.“ Das sind die letzten Sätze des Romans.

Kafkas Maschine, Rilkes Grammophon

Beyers Debütroman handelte von der Macht der Sprache über die Körper. Sein neuer Roman schildert den Versuch, durch die Entwicklung eines Mediums das Leben zu beherrschen. Gleichnishaft dafür ist ein Traum Karnaus, in dem er selbst Objekt eines „wissenschaftlichen“ Versuches wird. In diesem Traum wird ihm die Haut der Schädeldecke abgezogen, um mittels einer mechanischen Abtastung das ihm eigentümliche Geräusch, das „Ur-Geräusch“ zu entdecken. Er hört die Stimmen der Chirurgen: „Diese Grammophon-Nadel hier werden wir nun die Schädelnaht entlangführen. Wir sollten die Rille noch einmal von Blut säubern, damit die Nadel nicht in Mitleidenschaft gezogen wird.“ Unweigerlich muß man an einer solchen Stelle an Kafkas „In der Strafkolonie“ denken und insbesondere an diese Worte: „[...] durch die Stirn ging die Spitze des großen eisernen Stachels.“ Ritzt die Maschine bei Kafka den Wortlaut des übertretenen Gesetzes in die Haut des Angeklagten ein, bevor sie ihn tötete, wird Beyers „Knochensummen“ im Vergleich damit zum Sinnbild eines bereits internalisierten Schuldspruchs. Auch wenn die „Wissenschaft“ hier technisch das „Wesen“ entdeckt und die Möglichkeit seiner Gleichschaltung damit gefunden zu haben glaubt, ist das, was aus der Schädelnaht klingt, nichts anderes als das Urteil, das über sie gesprochen werden wird.

Was im dramaturgischen Gefüge des Romans nur als Traum darzustellen ist – das Verbrechen als von den Tätern selbst hörbar gemachtes Urteil über ihre Tat –, hat eine zeitgeschichtliche Entsprechung. Die wie nebenbei von Karnau gemachte Beobachtung, nach dem Krieg seien in Deutschland für gut zwanzig Jahre kaum private Aufnahmen von Stimmen gemacht worden, kann man auch so deuten: das Volk der Täter wollte die eigenen Laute nicht mehr hören.

Marcel Beyer: „Flughunde“. Roman. Suhrkamp Verlag, 302 Seiten, gebunden, 38 DM