Vom Kollektiv zur Zwangsfamilie

■ Wer in einer Wohngemeinschaft wohnt, soll unterhaltspflichtig für MitbewohnerInnen werden

Berlin (taz) – Wer in einer WG wohnt, soll künftig für mittellose Mitbewohner aufkommen müssen. Bevor das Sozialamt zahlt, sollen nach dem Referentenentwurf zur Sozialhilfereform aus dem Bundesgesundheitsministerium die Mitglieder der Wohn- oder Hausgemeinschaft für ihren in Not geratenen Mitbewohner zur Unterhaltszahlung herangezogen werden.

Unter dem unverfänglichen Stichwort „Haushaltsgemeinschaft“ hat der Gesetzentwurf, der noch vor der Sommerpause vom Kabinett verabschiedet werden soll, im seinem Paragraph 16 folgende Änderung eingebaut: „Lebt ein Hilfesuchender gemeinsam mit anderen Personen in einer Wohnung oder in entsprechenden Wohnverhältnissen, so wird vermutet, daß sie gemeinsam wirtschaften (Haushaltsgemeinschaft) und daß der Hilfesuchende von ihnen Leistungen zum Lebensunterhalt erhält.“ Im Klartext: SozialhilfeempfängerInnen werden künftig die Einkommensverhältnisse ihrer MitbewohnerInnen offenlegen müssen. Je nach deren Finanzkraft werden die Sozialämter dann berechnen, ob sie zahlen müssen oder ob das Gesamteinkommen aller Haushaltsmitglieder über dem Sozialhilfesatz liegt.

Bisher kennt das Bundessozialhilfegesetz eine solche Unterhaltsverpflichtung nur für Verwandte und Personen, die in „eheähnlicher Gemeinschaft“ leben. Künftig soll diese Regelung „für alle Haushaltsgemeinschaften gelten“. Offizielle Begründung des Ministeriums von Horst Seehofer (CSU): „Es bilden sich zunehmend Wohngemeinschaften, in denen nicht verwandte oder verschwägerte Personen die Vorteile einer gemeinsamen Haushaltsführung nutzen und sich auch in Notlagen beistehen.“

Ob die BewohnerInnen dieses auch tatsächlich tun, sollen die Sozialämter nicht einmal mehr prüfen müssen: Entscheidend, so heißt es in der Begründung zum Gesetzentwurf, ist der „objektive Sachverhalt: gemeinsames Wohnen“. Um den Ämtern den schwierigen Nachweis des gemeinsamen Wirtschaftens zu ersparen, sieht das Gesetz explizit eine „Beweislastumkehr“ vor.

Nach dem neuen Paragraphen gilt prinzipiell die Vermutung: Wer zusammen wohnt, macht auch gemeinsame Kasse. Originalton Bundesgesundheitsministerium: „Wenn das dann nicht stimmt, muß der Sozialhilfeempfänger eben dagegen klagen.“ Bisher mußten selbst bei eheähnlichen Lebensgemeinschaften die Sozialämter den Nachweis einer gemeinsamen Haushalts- und Wirtschaftsführung erbringen.

Sollte der Gesetzentwurf im Herbst die parlamentarischen Hürden überwinden, wäre das ein weitreichender Eingriff in unterschiedlichste Lebensformen: Ob als UntermieterIn, WG-Mitglied, HausbesetzerIn – wer auch immer sich mit wem eine Wohnung teilt, stünde mit seinen Ersparnissen und seinem Einkommen für die anderen in der Pflicht. Böses Blut innerhalb dieser Zwangsfamilien wäre programmiert. Umgekehrt müßte, wer in finanzielle Not gerät, seine besser betuchten MitbewohnerInnen „anbaggern“ und notfalls entweder sie oder das Sozialamt verklagen – ein juristischer Feldzug, den nur die wenigsten führen werden. Vera Gaserow

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