Engel und Monster

■ Die Schriftstellerin Irina Liebmann und der Zeichner Xago tauschten per Post Eindrücke vom Scheunenviertel aus

Spaziergänge durchs Scheunenviertel sind in Mode. Von der touristischen Nachfrage profitiert nicht nur die Stadtführerbranche, auch auf dem Buchmarkt erscheinen laufend neue Titel zum diesem mythischsten aller Berliner Kieze.

Irina Liebmann gehört zu denen, die sich schon vor dem Aufblühen des schillernden Nachtlebens im Scheunenviertel auskannten. In ihrem 1994 erschienen Roman „In Berlin“ hat sie die bedrückende Atmosphäre, die dort in der Endzeit der DDR herrschte, eindringlich beschrieben. Das Buch erzählt von einer Depression, deren Ursachen in dem Maße durchschaubar werden, wie die verkrusteten Gesellschaftsstrukturen des real existierenden Sozialismus zerfallen. Am Ende erkennt die Protagonistin, wie sie davon gelähmt und in die Irre geleitet wurde. Sie sagt sich von der Vergangenheit los und stürzt sich lebenshungrig in die entgrenzte, geöffnete Stadt.

Irina Liebmanns neuestes Buch „Wo Gras wuchs bis zu Tischen hoch“ ist keine Fortsetzung des Romans, kann aber dennoch als solche gelesen werden. Mit dem Zeichner Xago ist sie an einem warmen Sommerabend durch die neu eröffneten Kneipen im Scheunenviertel gezogen. Berauscht von der erotisch aufgeladenen Atmosphäre der Straßen und des Abends entscheiden die beiden, sich vorsichtshalber nicht wieder zu verabreden, sondern ihren Spaziergang brieflich fortzusetzen.

Die Autorin schickte kurze poetische Texte, Xago antwortete mit Zeichnungen. Aus dieser verspielten Korrespondenz hat die Europäische Verlagsanstalt ein Buch gemacht, das nicht die gewichtigste Publikation über das Scheunenviertel ist, aber sicherlich die schönste.

Topographie und Geschichte spielen darin keine Rolle. Die rissigen Fassaden, die maroden Straßen, die improvisierten Bars werden zur Projektionsfläche für erotische Phantasien. Auf dieser imaginären Bühne tobt sich die Beziehung zwischen den beiden Briefpartnern aus. Es ist eine Geschichte von Annäherung und Abstandhalten. Reizvoll wird sie durch diesen ungewöhnlichen Dialog zwischen Texten und Bildern. Es sind wenige Worte, wenige Striche, die den beiden für ihr intimes Gespräch genügen.

Ihr Scheunenviertel ist eine mystisch-phantastische Landschaft. Engel, Menschen und Monster wachsen aus den Mauern, Abgründe tun sich auf und Gebäude nehmen phallische Züge an. Man sieht's und erkennt die Sehnsucht nach Entgrenzung, die die Menschen noch immer in die Oranienburger Straße lockt. In Berlin gibt es wenige Straßen, die so erotisch sind. Warum interessieren sich Stadtplaner so wenig dafür?

Noch ist das Scheunenviertel ein Ort der verwischten Grenzen, wo die Übergänge zwischen Entzücken und Erschrecken, Traum und Wirklichkeit, Kunst und Alltag, Geschichte und Gegenwart fließend sind – oder es wenigstens zu sein scheinen. Noch läßt es erahnen, wie eine menschenfreundliche Stadt aussehen könnte. In dem Buch von Irina Liebmann und Xago ist der Zauber aufbewahrt für den Fall, daß er bei der Sanierung des Viertels auf der Strecke bleibt. Michael Bienert

Irina Liebmann/ Xago: „Wo Gras wuchs bis zu Tischen hoch“. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1995. 64 Seiten, 29 DM