Moskaus Krieger wollen Chaos

Verwirrung um einen Jelzin-Erlaß / Geschaßter Innenminister wird Vizespionagechef  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Die ausländischen Spionagedienste können nunmehr nachts ruhig schlafen“, kommentierte Rußlands einstiger Reformarchitekt Jegor Gaidar die Entscheidung Boris Jelzins, Ex-Innenminister Viktor Jerin zum stellvertretenden Chef der Auslandsspionage zu ernennen. Jerin war wegen seiner inkompetenten Handhabung des Geiseldramas in Budjonnowsk erst am Wochenende entlassen worden. Der Vorsitzende des Sicherheitsausschusses des Parlaments fiel aus allen Wolken und hatte Mühe, die Ungeheuerlichkeit in gemäßigte Worte zu kleiden. Nun, so Iljuschenko, sei „Jelzin völlig verrückt geworden, eine absurdere Entscheidung kann man sich nicht vorstellen“.

Jelzin gibt mit diesem Schritt jenen Spekulationen Nahrung, die behaupten, der Kreml stecke bis zum Hals in krummen Geschäften und könne daher keinen Abgang aus seinen Kreisen folgenlos überstehen. Im Anschluß an das Tschetscheniendebakel zeigte die Kriegspartei Schwächeerscheinungen, nun aber versucht sie, ihre verlorenen Positionen zurückzugewinnen. Letzter Höhepunkt dieser Entwicklung: Gestern nachmittag ernannte Jelzin Anatoli Kulikow, den Oberkommandierenden der Armee in Tschetschenien, zum Innenminster.

Nicht anders läßt sich auch Jelzins Ukas verstehen, der eine Stationierung der 58. Armee auf dem Territorium Tschetscheniens vorsieht. Das Dekret platzte mitten in die Verhandlungen, die der russische Unterhändler Arkadij Wolski in Grosny führte. Wolski beklagte, die ohnehin unsicheren Übereinkommen seien dadurch erneut gefährdet worden. „Leider wußten die Mitglieder der Regierungskommission – und ich glaube selbst die Regierung – nichts von diesem Dekret.“ Mit noch größerem Erstaunen stellte er fest: „Leider wußte die tschetschenische Seite einen Tag im voraus, daß das Dekret erlassen werden sollte.“

Üblicherweise würde man bei der Beurteilung dieses Vorgangs davon ausgehen, daß im Kreml die rechte Hand nicht weiß, was die linke gerade tut. Es sieht hingegen danach aus, als sei das chaotische Vorgehen ein Kalkül der Kriegspartei, die sich mit Verhandlungen nicht abfinden möchte. „Wir sehen, daß hinter dem Waffenstillstand und den Gesprächen die Russen ein anderes Spiel treiben, um die Öffentlichkeit irrezuführen und sich als Friedensstifter zu präsentieren“, meinte das tschetschenische Delegationsmitglied Usman Imajew.

Wolski erboste sich auch über Verteidigungsminister Pawel Gratschow, der die Verhandlungen im Fernsehen abschätzig niederbügelte: „Die Gespräche erlauben ihnen [den Tschetschenen], sich neu zu formieren und Kräfte zu sammeln, um nach gewisser Zeit Kriegshandlungen wiederaufzunehmen. Das ist das, was wir voraussagen.“ Gratschows Äußerungen seien noch schädlicher als das Dekret des Präsidenten, meinte Wolski. Da er mit dem Auszug aus der Verhandlungskommission gedroht hätte, habe man ihm jedoch zugesagt, das Dekret aufzuheben.

Tatsächlich kursierte in Moskau zwischenzeitlich die Nachricht, Jelzin habe dem Wunsche Wolskis entsprochen. Nach langem Schweigen verlautete indes aus dem Pressebüro des Präsidenten, man denke nicht an eine Rücknahme der Verfügung.