Peace on Earth per Gymnastik

■ Die 10. Welt-Gymnaestrada in Berlin vereinigt für eine Woche Multikulti und Sportsgeist / Die "Olympiade des Breitensports" als Gegenbewegung zum Motto des "schneller, höher, weiter"

Sie trinken lieber Milch als Red Bull. Sie verstehen sich nicht als politische Bewegung, tragen lieber Jogginganzüge als Latex und benehmen sich ohnehin eher uncool. Trotzdem haben sie eine Menge Spaß. Die Sportfreaks der 10. „Gymnaestrada“ in Berlin läuteten am Wochenende ihr internationales „Turner-Happening“ mit einer stimmungsvollen Welcome- Party auf dem Alexanderplatz ein. Den wenigen versprengten „Polit- Demonstranten“ der Love Parade machten sie vor, wie Peace on Earth per Gymnastik funktioniert.

Von deutschen Hausfrauen mit Problemzonen, südafrikanischen Rollstuhlfahrern, schwedischen Trampolinfans, schweizerischen FeierabendsportlerInnen bis zu ehrgeizigen SportstudentInnen aus Japan tummeln sich vom 9. bis zum 15. Juli rund 20.000 gymnastisch Aktive aus 35 Ländern in Berlin. Sie wollen „ohne jeden Wettkampfcharakter“ in Multikulti-Atmosphäre ihr Können demonstrieren und erwarten dazu 50.000 BesucherInnen.

Gymnastik heißt hier nicht nur Fähnchenschwingen, sondern auch kreative Akrobatik: Bei den Proben in den Messehallen fliegen 100 niederländische TurnerInnen im Salto durch die Luft, bauen Pyramiden, purzeln wieder auseinander und drehen sich im Laufrad über die Bühne. Die Seilnummer des dreißigköpfigen StudentInnen-Teams aus Tokio ist professionell fehlerfrei und wird – natürlich – per Videokamera festgehalten: Beim Seilspringen der Superlative springen vier Turner über ein großes Seil, wobei jeder gleichzeitig wieder über ein kleines hüpft, das er selber schwingt. Der Japan- Abend am Dienstag ist bereits jetzt nahezu ausverkauft.

Bei den finnischen Frauen im besten Alter dagegen geht es vor allem bunt zu. In Santa-Claus-Kostümen bieten sie eine Lappland- Parade. StudentInnen aus München haben eine akrobatische Feuerwehrshow einstudiert. Hebefiguren mit Rollstuhlfahrern, Jonglagen und Schauspielerei sind zu sehen.

In 100 Schulen haben sich die SportlerInnen für eine Woche einquartiert, stretchen und dehnen sich zwischen Cornflakes und Vollkornbrot schon beim Frühstück und verbreiten gute Laune. Dementsprechend ist auch die Stimmung am Alex, in den Messehallen am ICC und auf dem Olympiagelände, wo in diesen Tagen jede Menge Bewegung herrscht.

„Wir haben schon ganz viele Leute kennengelernt, aus Namibia, USA und Brasilien“, freuen sich die Teens aus Portugal, die bei ihrem Lieblingslied auf dem Alex spontan zu einer Promenade starten. Zwar gibt es Mäuse im Schlafsaal der Schule, wo sie untergebracht sind, erzählt die 10jährige Luisa und verzieht das Gesicht. Die Gymnaestrada findet sie aber trotzdem „super“.

Das gemeinsame Miteinander aller Kulturen ohne Wettkampfstreß und Leistungsdruck gehört zum Programm der „Welt-Gymnaestrada“, die zum ersten Mal 1953 in Rotterdam veranstaltet wurde. Die Idee zu dem Turner- Event, das mittlerweile einen festen Platz im Terminplan des Internationalen Turnerbundes gefunden hat, hatte der Holländer Johan Heinrich François Sommer. Er erfand die „Gymnaestrada“, eine Wortschöpfung aus Gymna = Turnen und Estrada = Bühne oder Straße.

„Jedes Land soll seine eigene nationale Bewegungskultur präsentieren. Deshalb gibt es die Länderabende“, erklärt Herbert Hartmann, Präsident des internationalen Turnerbundes.

Die „Olympiade des Breitensports“ läßt sich nach Ansicht von Hartmann heute durchaus als Gegenbewegung zum „Versportungsprozeß“ der sechziger Jahre und dem „höher, schneller, weiter“- Motto“ des gegenwärtigen Spitzensports verstehen. Die Gymnaestrada knüpfe vielmehr an die Körperkultur der Fünfziger an, wo es um die Leibesübung und das sportliche Gemeinschaftserlebnis gegangen sei. „Interkulturelle Verständigung, und zwar ohne Wettstreit, lautet unsere Devise. Leistung ist die Leistung des Teams. Es geht ums Mitmachen und das Miteinander“, sagt er.

Mary aus Südafrika genießt diese fröhliche Stimmung. Sie sitzt im Rollstuhl. „Gymnastik ist wichtig für mich, wegen der Selbstdisziplin. Außerdem kommen hier endlich einmal Behinderte und Nichtbehinderte zusammen.“ Auch Eva aus der Schweiz wippt mit den Hüften zur Musik. Vor 20 Jahren war sie schon einmal bei der Gymnaestrada in Berlin. Diesmal jedoch ist sie über die Techno-Fans erschrocken. „Die hängen doch irgendwie nur rum, die jungen Leute. Vielleicht kann Gymnastik sie von der Straße holen“, hofft sie. Silke Fokken