Überleben mit der Erinnerung

■ In Berlin trafen sich die „child-survivors“ des Holocaust / Angst und Scham spüren die verfolgten Kinder noch heute

Erstmalig in Deutschland haben sich in Berlin am Wochenende die child-survivors getroffen. Sie, die als Kinder während des Nationalsozialismus verfolgt waren, sprachen bei ihrem am Sonntag beendeten dreitägigen Treffen über ihr erlittenes Unheil und suchten gemeinsam nach Möglichkeiten der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung.

Auf Initiative des Berliner Opferberatungsvereins „esra“ waren knapp 40 Männer und Frauen aus dem gesamten Bundesgebiet zu dem Treffen ins Jagdschloß Glienicke gekommen. Sie alle hatten mindestens ein jüdisches Elternteil und erlitten während der Nazizeit die unterschiedlichsten schweren Schicksale. Einige mußten sich vor den Nationalsozialisten verstecken, andere wurden deportiert, zur Zwangsarbeit verpflichtet oder in Konzentrationslagern mißhandelt. Bislang ist die Gesamtzahl der Kinder mit einem solchen Schicksal nicht bekannt. Das Alter reicht von Minderjährigen, die damals Schüler waren, bis zu Kindern, die in KZs geboren wurden.

In Berlin konnten sie am Wochenende mit Schicksalsgefährten über ihr Leid reden – eine Praxis, die in Holland und Israel bereits erfolgreich angewandt wird, in Deutschland aber bisher nicht üblich war.

„Bei diesen Menschen handelt es sich um eine vergessene Opfergruppe“, glaubt Alexandra Rossberg, Geschäftsleiterin der „esra“- Beratungsstelle. Vor allem die Kinder aus den rund 140.000 sogenannten Mischehen, die während der Nazizeit zum Teil keinen gelben Judenstern tragen mußten, aber dennoch großes Unheil durchlitten, seien aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein der neunziger Jahre fast verschwunden.

Eine der verfolgten child-survivors von damals ist Helga E. Die heute 72jährige Berlinerin wuchs in Braunschweig auf. „Zehn Jahre lang war ich ein ganz normales Mädchen“, erinnert sie sich. Als Hitler 1933 die Macht übernahm, spürte sie die allgegenwärtige Angst ihrer Mutter, einer Jüdin. Wenig später mußte Helga E. die Schule verlassen. Eine anschließend begonnene Berufsausbildungen mußte sie wieder abbrechen.

Als der Krieg begann und die Bomber über Braunschweig kreisten, durfte sie mit ihrer Mutter nicht in den Luftschutzkeller, sondern mußte statt dessen Zwangsarbeit verrichten. Schließlich zog es die Familie vor, in der Illegalität unterzutauchen. Helga E. zog aufs Land, schlug sich als Feldarbeiterin durch und änderte ihre Identität. „Richtig Angst hatte ich, als die Gestapo unsere Wohnung durchsuchte“, beschreibt sie ihre Gefühle.

Wenn Helga E. sagt: „Das Elend von damals wirkte sich auf mein ganzes Leben aus“, dann kann Werner Greve, „esra“-Vorsitzender und Psychotherapeut, das aus seiner Sicht bestätigen. Bei den child-survivors handelt es sich, so Werner Greve, um eine besonders sensible Opfergruppe, die noch heute kaum bereit sei, über ihr erlittenes Schicksal zu reden. In Deutschland, dem Land der Verfolgung, sei die Angst und Scham vor einem Gang zum Arzt oder Therapeuten auch heute noch besonders groß.

Der israelische Wissenschaftler Haim Dasberg bringt es auf den Punkt: „Überlebende des Holocaust wollen sich aussprechen, sträuben sich aber vor dem Gang zum Psychiater, weil sie glauben, dort nicht hinzugehören.“ Michael Donhauser, dpa