Nur gutes Gutes und böses Böses

■ Von der kultischen Inszenierung des Schicksals zur Werbung für Michael Jackson: Zum 100. Geburtstag Carl Orffs

„Klug sein und lieben – das kann kein Mensch auf dieser Welt.“ Der Schlußsatz seiner Märchenoper „Die Kluge“ ist zugleich das Programm der Musik Carl Orffs: Protest gegen die reglementierte moderne Wirklichkeit und die Suche nach einem dem Alltäglichen entrissenen magischen Lebenszustand. Doch, Ironie der Geschichte: Der Protest gegen die moderne Welt ist von dieser längst vereinnahmt. Werbeclips, die heute das Orff so verhaßte moderne Leben prägen, haben ihn in den letzten Jahren für ein größeres Publikum wiederentdeckt – und damit zugleich die „ernste“ Musik werbefähig und für die Popkultur interessant gemacht. Längst lassen seine „Carmina Burana“ als Klangteppich die Schokoladenwerbung zum „Erlebnis für die Sinne“ werden, peppen sie Konzerttourneen von Michael Jackson musikalisch auf.

Eine unfreiwillige Vermittlerrolle zwischen E- und Popmusik, in die Orff da posthum geraten ist. Seine Biographie ist typisch für die bildungsbürgerliche Weltfremdheit, die die E-Musik-Szene bis weit in unsere Tage prägt: Geboren in München als Sohn einer Offiziers- und Gelehrtenfamilie, wurde Orff die Musik förmlich ins Ohr gelegt – lag doch gegenüber dem Elternhaus das Probelokal eines täglich übenden Regimentsorchesters. Ergänzt wurde diese Dauerbeschallung durch die „unentwegte Hausmusik“ der Familie. Kein Wunder, daß Carl Orff so zum musikalischen Wunderknaben wurde. Als Sechzehnjähriger brach er das Gymnasium zugunsten eines Besuches der Münchner Akademie der Tonkunst ab. „Den Doktor h. c. bekomme ich sowieso“ – eine Prophezeiung, die sich 1957 durch die Verleihung des Doktortitels der Universität Tübingen erfüllen sollte.

Orff lebte inmitten der Zersplitterung der modernen Musik. Mit ihren Hauptströmungen – der Zwölftonmusik und der Abkehr von der Tonalität – hatte er nichts im Sinn. Obwohl keine musikalische Verbindung zu Schönberg, Berg oder von Webern erkennbar war, mischte Orff aber doch in der Musikszene seiner Zeit mit. Der Münchner Bach-Verein und die „Vereinigung für zeitgenössische Musik“ boten ihm ein Podium für seine szenisch-musikalischen Experimente. Trat er in diesem Rahmen noch gemeinsam mit Béla Bartók, Igor Strawinsky oder Paul Hindemith auf, so trennten sich die Wege bald. Während die Musik der meisten Angehörigen seiner Generation als „entartete Kunst“ verleumdet und ihre Kompositionen verbrannt wurden, wurde Orff ein (wenn auch nicht unumstrittenes) Hätschelkind der NS-Ära. Einem „Reigen“ für die Eröffnungsfeiern der Olympischen Spiele 1936 folgte am 8. Juni 1937 eine triumphale Uraufführung seiner „Carmina Burana“, unter der musikalischen Leitung Herbert von Karajans in Frankfurt.

Kein Zufall, daß deren ekstatische, schicksalsergebene und zur Selbstvergessenheit aufrufende Botschaft seinerzeit auf große Resonanz stieß. Ihr unbändiges Temperament, die „kultische“ Inszenierung, das Massenaufgebot an Sängern – all dies war offensichtlich ein Protest gegen die von den Nazis ebenfalls als „entartet“ verunglimpfte Intellektualisierung der Neuen Musik. Wichtiger als das persönliche Versagen Orffs gegenüber den braunen Machthabern ist denn auch die Rückwendung von der modernen Welt zu den vermeintlich heilen Ursprüngen in der Tradition, der in der Philosophie auch Martin Heidegger verfiel.

Orff flüchtete sich mit seinen Kompositionen zeitlebens schaudernd vor der Moderne in die Welt der Griechen oder die des Märchens: ihre intellektfeindliche Naivität und ihr Pathos stehen im Zentrum seiner Arbeit. Im Orffschen Musiktheater sind die Guten noch stets gut und die Bösen nur böse. Zwischentöne und moralisch Unentscheidbares interessieren nicht. Der auch Gedichte Bert Brechts vertonende Orff war sicher kein Nazi, aber seine Ablehnung der modernen Welt und der naive, intellektfeindliche Glaube an das Vergangene, an das Elementare und an das Einfach-Primitive als dem eigentlich Guten, sind totalitären Gedanken nahe.

Orff war, wie er selbst sagte, nie modern. Aber er ist doch immer wieder auf die moderne Welt angewiesen, weil nur der Kontrast zu ihr seiner Musik das Pathos gibt, von der sie lebt.

Orffs Musik braucht das Bild und die Massenszene, in der sich Wort, Ton und Bewegung vereinigen. Konsequent setzte er auf das gesprochene Wort. In seinem Musiktheater verwischen die Spartengrenzen des Kulturbetriebes – hier Oper, dort Sprechtheater. Sprache und Musik stehen gleichberechtigt nebeneinander, um die ihnen gemeinsame kultische Dimension freizulegen. Entsprechend wurden Stücke wie die Orffsche Version von „Oedipus, der Tyrann“ noch von der Musikkritik der fünfziger und sechziger Jahre als „Oper ohne Musik“ verrissen.

Orffs Verklärung des Vergangenen sah auch in den alten Sprachen eine urtümliche Kraft, eine leidenschaftliche Gewalt und eine Authentizität, zu der angeblich die modernen Sprachen nicht mehr fähig seien. Latein kehrt mit den in lateinischer und mittelhochdeutscher Sprache geschriebenen „Carmina Burana“ oder den „Catulli Carmina“, einem Singspiel nach Texten des römischen Dichters Catull, in das Musiktheater unserer Tage zurück. Ebenso das Altgriechische, etwa mit der ambitionierten Fassung des „Prometheus“. Dies und die Ausflüge in den bayrischen Dialekt in Stücken wie „Die Bernauerin“ oder „Astutuli“ sind nicht nur Ausflüsse eines weltfremden Bildungshumanismus und intellektueller Provinzialität, sondern sind Ausdruck der Orffschen Weltanschauung.

Bekannt – und von vielen gefürchtet – ist Orff bis heute für sein „Schulwerk“, eine musikalische Früherziehung für Kinder. Daß er als Komponist noch einmal vom Zeitgeist entdeckt werden würde, hielt in den Sechzigern kaum jemand für möglich. Doch Geschichte verläuft in Wellen, und die Werbung bekanntlich auch. Kompositionen wie das „Trionfo di Afrodite“ oder das erst kurz vor seinem Tode 1982 fertiggestellte „Spiel vom Ende der Zeiten“ sind bislang noch ungenutzte Fundgruben für Werbemomente extremer Leidenschaft. Harry Kunz