Hauptsache "interaktiv"

■ Vier Mann, ein Marketingtrick und ein in 48 Stunden für das Guinness-Buch geschriebener Roman

Wieso hocken sich diese vier jungen Leute bloß an einem Wochenende wie diesem, an dem jeder vernünftige Mensch am Baggersee abhängt, zwei Tage lang in enge dunkle Galerieräume und tippen auf Computer und Schreibmaschine vor sich hin? Die Muse hatte gerufen – zu einer Art literarischem Rave. Während in Berlin die Love Parade über den Kudamm zog, fabrizierten zwei Kölner und zwei Düsseldorfer Autoren einen „Live-Roman“.

„Wer der Meinung ist, Romane zu schreiben dauert Jahre, wird jetzt eines Besseren belehrt“, stand in der Einladung. In nur 48 Stunden, von 12 Uhr am Freitag bis Sonntag mittag, wollten Georg Heuschen und Thomas Kallweit in Düsseldorf, Stan Lafleur und Enno Stahl in Köln gemeinsam einen Roman fertigstellen. Der soll eventuell als Buch oder als Hypertext auf Diskette veröffentlicht werden. Verbunden durch Fax und Telefon, schickte man sich Ideen, Texte, Skizzen hin und her.

Von denen waren am Samstag mittag bei einem Besuch in der Düsseldorfer New World Gallery schon einige laufende Meter zu besichtigen. Auf einer Pinnwand rollte sich das Faxpapier, am Boden stapelten sich weitere Manuskripte, an zwei Schreibtischen saßen leicht übernächtigt Georg Heuschen und Thomas Kallweit mit dunklen Ringen unter den Augen und versuchten, trotz zahlreicher Besucher zum Schreiben zu kommen.

Allein auf Kallweits Computer waren am Samstag nachmittag bereits über 300.000 Zeichen abgespeichert worden. Alle fünf Minuten orgelte das Fax neue Texte aus Köln hervor. Auch aus Berlin und Karlsruhe liefen Beiträge ein, die sofort wieder in den „Fließtext“ eingearbeitet wurden. Der Roman soll schließlich „interaktiv“ sein: Die Fern-Schreiber in den anderen Städten, aber auch die Besucher der Galerie sollten Ideen, Romanfiguren, Handlungsstränge vorschlagen und so den Verlauf des Schreibens mitbestimmen.

Einen Roman im konventionellen Sinn produziert man so freilich nicht. Irgendwie sollte es zwar um eine Verschwörung gehen. Eine linear ablaufende Handlung war in den an der Pinnwand „veröffentlichten“ Texten nicht zu finden, eher vier parallel nebeneinanderher laufende „stream-of-consciousness“-Fragmente, in denen gelegentlich dieselben Personen auftauchten: unter anderem Max Stirner, ein geheimnisvoller Mann namens Flint, Steffi Graf und Herbert Wehner. Nicht ganz einig waren die vier Autoren sich allerdings, ob letzerer im Laufe der Handlung bereits gestorben sei.

Reichstagsenthüllung in Echtzeit

Außerdem spielten die Love Parade, die Reichstagsenthüllung und Kohls Polenbesuch eine Rolle. Die Mutter von Thomas Kallweit, die den dichtenden Sohn mit Obst und einem frischen T-Shirt versorgte, entdeckte außerdem autobiographische Bezüge. „Chaos! Entropie! Nichts macht noch Sinn“, hieß es in einem Textfragment, und damit ist die Methode dieser Echtzeit-Literatur auch schon fast beschrieben. Statt einem stream of consciousness, einem „Bewußtseinsstrom“, ist der Roman eigentlich eher ein „Fluß ohne Ufer“, wie ein legendär überlanges Buch von Hans Henny Jahnn heißt. Daher ist der Zusammenhang zwischen den einzelnen Text- „Strömen“ auch eher assoziativ als bewußt strukturiert. Einige der Autoren wollten aber offenbar auch auf den Zusammenhang zwischen unterdrückter Libido und dichterischer Kreativität hinweisen: Dauernd war da von „Sackkratzen“, „Arschverkehr“, „fünftem Tagesorgasmus“ die Rede. Das mag daran liegen, daß keine Autorinnen beteiligt waren. Sie hätten möglicherweise die Autoren davon abgehalten, die Leserschaft dauernd mit ihren primären Geschlechtsorganen zu behelligen.

Die Surrealisten haben in der bildenden Kunst ähnliche Kollektiv-Techniken eingesetzt, um „überindividuelle Werke“ zu schaffen. Bei einem Spiel mit dem schönen Namen „Die exquisite Leiche“, das sich in den 30er Jahren in Paris großer Beliebtheit erfreute, malte ein Künstler einen Körperteil, faltete das Blatt so, daß nur einige Striche zu sehen waren, ein anderer Zeichner setzte das Bild fort und so weiter, bis das Blatt voll war. Vergleichbare literarische Experimente fielen aber keinem der Beteiligten ein. Allenfalls die „Multi-User Dungeons“ (MUD) im Internet, bei denen Computerhacker aus Texten gemeinsam eine künstliche Welt schaffen, sind ein verwandtes Beispiel von kollektiv hervorgebrachter Literatur.

Angesichts der Trial-and-error- Methode des „interaktiven Romans“ versagen traditionelle Maßstäbe der Literaturkritik. Da es dem außenstehenden Leser so gut wie unmöglich ist, nachträglich das Verhältnis der einzelnen Textfragmente zueinander zu klären, bleibt als Kategorie zur Bewertung eigentlich nur das Vergnügen, das die Autoren beim Schreiben gehabt haben. Die Aufnahme ins Guinness-Buch der Rekorde dürfte darum näher sein als ein Platz in der Literaturgeschichte. Tilman Baumgärtel