DDT-vergiftete Migranten

„Duck dich, duck dich. Immer geduckt bleiben.“ Ich kroch, warf mich zu Boden, kroch weiter. Wie lange? Seit Stunden bewegten wir uns langsam auf dem noch heißen Beton vorwärts. Mit der Nase im Staub. Ich nieste. Niesen ist gut, es reinigt. Was für eine Gymnastik, Mensch. Ob es noch weit ist? „Willst du mich umbringen, Tadeu? Seit meiner Militärzeit bin ich nicht mehr so gekrochen.“ „Wir werden hinter dem Pfeiler da vorn ausruhen.“ Wir krochen mitten auf der Straße entlang, so daß man uns nicht sehen konnte. Die Schnellstraße lief fünfzehn Meter über der Erde entlang, mit sechzehn Fahrbahnen, ein breites leeres Band. Bedeckt mit einer grauen Staubschicht. Das heißt, im Dunklen konnte man die Farbe nicht erkennen, aber ist es derselbe Staub, der von den verkohlten Feldern kommt. Meine Ellbogen brannten, sie waren zerschunden. Tadeu hatte mir noch geraten: Verbinde deine Ellbogen, wir haben einen langen, unbequemen Weg vor uns.

Die ersten zweihundert Meter waren schwierig, wegen meiner Arthrose, dann kam ich in Bewegung. Aber ich schnappte nach Luft, das ist natürlich, denn ich treibe keinen Sport und ernähre mich schlecht. „Können wir jetzt eine Pause machen?“ „Hinter dem Pfeiler, hinter dem Pfeiler. Wir dürfen nicht leichtsinnig sein.“ Es war nicht einfach, auf die Schnellstraße zu gelangen. Die Zufahrten waren blockiert und bewacht, an den Seiten Mauern. Und dann lief die Straße erhöht weiter. Tadeu führte mich durch die Ruinen des ehemaligen Viertels Vila Anastacio. Die einfachen Häuser, die eine Immobilienfirma errichtet hatte, waren eingestürzt. Wir kletterten auf einem Träger entlang. Einige Haken ragten aus dem Beton heraus und dienten jetzt als Leiter. Ich hatte fürchterliche Angst zu fallen. Das ist nichts für jemanden in meinem Alter. Ich staunte über Tadeu. Er zog sich behend wie eine Katze hinauf, in zwei Minuten war er oben auf der Straße. Er brauchte einige Zeit, um mir zu zeigen, wie ich am besten kriechen könnte, ohne mich zu verletzen. „Am Anfang wirst du dich aufschürfen. Aber später gewöhnst du dich daran.“

Wir krochen vorwärts und mußten etwa zwei Kilometer zurückgelegt haben, als grünes Licht auf mich fiel. Neben der Brücke sah ich Berge von Bierdosen. Grüne Dünen. Riesig, höher als die Schnellstraße. Da lagen sie und glänzten im Mondschein. Es wurde kalt. Wir krochen weiter, ich glaubte einen merkwürdigen Ton zu hören. Als sei es ein Wimmern, das aus den blechernen Dünen drang. Nein, eine Täuschung! Da war es wieder. Ein Schrei. Ein Schrei und noch einer und noch einer; sie bildeten einen einzigen Ton. Voller Schmerz. Fast wie ein künstlicher Ton. Sicher der Wind in den Dünen, dachte ich. Weint Wind? Ich hielt an, betrachtete die grünen, oxydierten, aufeinandergetürmten Dosen, praktisch eine an die andere geschweißt. Nun, es weht kein Wind, nur sehr selten. Wenn Wind wehte, würde der Staub von der Straße aufwirbeln. Die dicke Staubschicht bleibt jedoch unverändert, glatt. Ich sehe hinter mich und erkenne die Spur, die mein Körper beim Kriechen hinterlassen hat.

Wir rücken weiter vor, jetzt höre ich den Ton ganz deutlich. Ein Seufzen, ich täusche mich nicht. „Wohnen hier Menschen?“ „Da drin sind Höhlen. Tausende von Menschen sind dort untergeschlüpft.“ „Die Sonne muß doch alles barbarisch aufheizen. Sie sterben geröstet.“ „Sie sterben nicht. Das ist das brasilianische Wunder.“ „Nicht möglich.“ „Es ist ein Vorgang, den bisher niemand verstanden hat. Man vermutet, daß die Dosen nachts dermaßen abkühlen, daß sie am Tage lange brauchen, um sich wieder aufzuheizen. Wenn sie glühen, geht die Sonne schon wieder unter. Deshalb ist es da drinnen kühl. Eine Hypothese, reine Hypothese. Heutzutage versteht niemand mehr etwas, alles ist anders.“ „Woher weißt du von diesen Leuten?“ „Es gibt Leute aus unserer Gruppe, die hier helfen. Ich selbst bin nie hergekommen. Ich lese die Berichte, die sie schreiben. Die meisten hier sind verrückt.“ „Verrückt? Richtig verrückt?“ „Sozusagen. Halb schwachsinnig. Außer Gefecht. Sie leben im Liegen. Sie schreien, weil der Körper unaufhaltsam schmerzt. Sie schlafen nie, also sind sie immer nervös, reizbar und angespannt.“

„Aber wer sind denn diese Leute?“ „Niemand Besonderes. Zusammengewürfelte Migranten. Die meisten kamen aus Pernambuco, Slumbewohner, die im Sumpf gelebt und sich von Krebsen ernährt haben.“ „Aber Krebse schaden doch niemandem.“ „Nur waren es Krebse, die mit DDT vergiftet waren. Um die Sümpfe zu sanieren, verwendete das Gesundheitsministerium DDT. Man kann nichts mehr tun. Sie sind verloren.“ „Das System müßte Hilfe leisten.“ „Hilfe? Die wollen, daß sie sterben! Sie stellen keine Gefahr dar, sie sind ganz passiv, können nicht aufstehen. Jeden Tag werden Dutzende von Toten herausgeholt und weggeschafft. Das ist das einzige, was das System tut. Überleg doch mal, welches Interesse man an diesen Leuten haben kann. Sie haben nicht die geringste Kaufkraft, verbrauchen nichts, sind lediglich ein soziales Problem.“

Auszug mit freundlicher Genehmigung des Autors Ignacio de Loyola Brandao aus seinem Roman „Kein Land wie dieses“, der 1986 in deutscher Übersetzung im Suhrkamp Verlag erschien. Loyola, 1936 im Landesinnern des Bundesstaats São Paulo geboren, arbeitet als Journalist und Drehbuchautor in der Stadt São Paulo. In seinem Zukunftsroman beschreibt er, wie die Stadt São Paulo nach der Jahrtausendwende zu einer Wüste austrocknet. Wasser ist das höchstbegehrte Gut. Die Regierung ist hinter kühlenden Mauern abgeschirmt und kontrolliert Verkehr, öffentliche Ordnung und Privatleben. Wer sich nicht anpaßt, wird aus der Gesellschaft ausgestoßen.