■ Buchtip
: Dschungel und Chaos

São Paulo, Buenos Aires, Mexico City sind keine Großstädte mehr, sie sind zu Megalopolen angewachsen. In diesen gigantischen Lebensräumen mit ihren zig Millionen Bewohnern verliert der einzelne schnell den Überblick. „Mein Vater braucht einen Kompaß, um sich in der Stadt zu orientieren“, sagt der Embryo-Erzähler in Carlos Fuentes' Roman „Christop Ungeborn“, „er ist wie ein Seefahrer auf dem Mare Inkognitum“. Ein solcher Kompaß steht den Geistes- und Sozialwissenschaftlern nicht zur Verfügung. Ebensowenig den Schriftstellern, Filmemachern und Musikern, mit deren Großstadterfahrungen sich die Beiträge der „Projektgruppe Neue Welt Stadt“ in ihrem Buch „Grenzgänge“ auseinandersetzen.

Künstler und Wissenschaftler kapitulieren vor dem Versuch, die Riesenstädte Lateinamerikas und der USA als komplettes Panorama zu beschreiben, wie es in den zwanziger Jahren noch möglich schien. Daher lassen sich die anspruchsvollen Aufsätze des Buches letztlich auf einen Nenner bringen: Die postmoderne Großstadt kann nur noch fragmentarisch erfaßt werden. Die ausufernden Städte, medial vernetzt und vom Autowahn beherrscht, bilden keine abgegrenzte Einheit mehr, sie bestehen aus unzähligen Mikrokosmen. Und so sind auch die behandelten Romane, Filme und Musiktexte meist gesammelte Momentaufnahmen, die verwirrende, sich überlappende und widersprüchliche Bilder ergeben. Manche Literaten verzichten auf das eigene Erzählen und schildern die Stadt in Form von Chroniken. So verfährt die mexikanische Schriftstellerin Elena Poniatowska, die in ihrer Chronik der Nacht von Tlatelolco (der 2. Oktober 1968, als in Mexico City Hunderte Demonstranten erschossen wurden) und in ihrer Chronik des Erdbebens von 1985 Augenzeugenberichte kommentarlos aneinanderreiht, um so das Entsetzen, aber auch die Solidarität der Betroffenen zu dokumentieren.

Auch in den meisten anderen analysierten Texten überwiegt die Katastrophe, die Megalopolen reduzieren sich auf Drogenumschlagplätze, auf bürgerkriegsähnliche Zustände und soziales Elend, Umweltverschmutzung und Müll. Die heutige Großstadt ist nicht mehr der sichere Hort der Zivilisation, sondern wird zunehmend zum angsteinflößenden Dschungel und zum Chaos. Eine Apokalypse auf Raten, die dennoch immer wieder ihre Erzähler findet. Anne Winter

„Grenzgänge. Großstadterfahrungen in Literatur, Film und Musik Lateinamerikas und der USA seit 1960“. Hrsg.: Projektgruppe Neue Welt Stadt. Aisthesis Verlag, Bielefeld 1995