Überholt, inkonsequent und ignorant

Dieter W. Bricke analysiert, wie die Regierungen in Osteuropa mit ihren Minderheiten umgehen / Heraus kommt eine harsche Kritik des Auswärtigen Amtes, die sich mit doppelten Standards unglaubwürdig macht  ■ Von Keno Verseck

Die Diskussion um das deutsche Blutrecht und die doppelte Staatsbürgerschaft wurde bislang von innenpolitischen Argumenten bestimmt. Außenpolitische Aspekte, wie etwa der Verweis auf die rückständige deutsche Praxis im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern, spielten in ihr nur eine untergeordnete Rolle. Eine bemerkenswerte Studie, die in diesem Frühjahr erschienen ist, greift nun das Thema der außenpolitischen Folgen des deutschen Staatsbürgerschaftsrechtes auf.

Dabei erhebt das Buch nicht explizit den Anspruch, einen Beitrag zur Staatsbürgerschaftsdiskussion in Deutschland zu leisten. Sein Gegenstand sind vielmehr, wie der Titel besagt, „Minderheiten im östlichen Mitteleuropa. Deutsche und europäische Optionen“. Dargestellt wird in Länderstudien die Lage der Minderheiten in denjenigen osteuropäischen Staaten, die eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstreben und bereits Assoziierungsabkommen mit der EU besitzen: in Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei, in Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Slowenien und den baltischen Staaten.

Im theoretischen, den Länderberichten vorausgehenden Teil des Buches analysiert der Autor Dieter W. Bricke die Geschichte des Minderheitenschutzes, die Minderheitenproblematik in Osteuropa nach 1989 und – besonders interessant – entwickelt eine Konzeption für eine neue, gesamteuropäische Minderheitenpolitik. Notwendig sei sie, schreibt Bricke, weil die „europäische Minderheitenpolitik bis heute daran krankt, daß sie sich als Mittel zur Durchsetzung sachfremder Zwecksetzungen mißbrauchen läßt“.

Brisant ist an der Studie vor allem, daß sie auf Initiative des Auswärtigen Amtes verfaßt wurde und in ihr die Politik unter anderem dieses „Hauses“ gründlich kritisiert wird. Dieter Bricke geht davon aus, daß die Sicherung und der Schutz von Minderheitenrechten in Osteuropa zur erstrangigen Aufgabe gehören, um die Stabilität in der Region zu sichern. Dabei komme vor allem der deutschen Außenpolitik eine Schlüsselfunktion zu, hat Deutschland doch geographisch, historisch-politisch und wirtschaftlich unter allen EU-Mitgliedern den größten Einfluß auf Osteuropa.

Die deutsche Minderheitenkonzeption kritisiert der Politologe kurz und bündig als „überholt“, und die deutsche Außenpolitik in Osteuropa analysiert er harsch als „modifizierte Vertriebenenpolitik“. Eine glaubwürdige Politik und die Forderung nach einem effektiven Minderheitenschutz könne Deutschland in Osteuropa auf Dauer nur vertreten, wenn es sich nicht nur um den Schutz deutscher Minderheiten im Ausland bemühe, schreibt Bricke. Es müsse seinerseits das Blutrecht (Jus sanguinis) abschaffen und eine neue Minderheitendefinition entwickeln, „die nicht mehr zwischen der Sicherung der Menschenrechte für eigene und fremde oder alte und neue Minderheiten unterscheidet“. Konkret hieße das: Aufnahme eines Minderheitenschutzartikels in das Grundgesetz, Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft und Anerkennung der Arbeitsimmigranten als Minderheiten. – Wie wichtig eine solch veränderte Politik wäre, beweist die Entwicklung in den osteuropäischen Ländern nach 1989. Längst ist die Euphorie der Erkenntnis gewichen, daß sowohl die europäische Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg als auch die vierzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nichts an den beiden Konstanten osteuropäischer Geschichte geändert haben: Minderheiten- und daraus resultierende Grenzkonflikte. Mehrere Dutzend solcher Konflikte sind in osteuropäischen Ländern bislang ungelöst.

Zwei von ihnen beschreibt Bricke als exemplarisch und als eine der größten Gefahren für die Stabilität in der Region: die Russen beziehungsweise andere exsowjetische Staatsbürger in Lettland und Estland, die mit der Unabhängigkeit der beiden Staaten zu Minderheiten wurden, und die dreieinhalb Millionen Ungarn, die infolge der Aufteilung Ungarns nach dem Ersten Weltkrieg in die Slowakei, die Ukraine, nach Serbien und Rumänien gelangten.

In beiden Fällen sehen sich diese Minderheiten dem Vorwurf ausgesetzt, fünfte Kolonnen Moskaus oder Budapests zu sein. Während jedoch die Ungarn vor allem in der Slowakei und Rumänien „nur“ von einer beabsichtigten oder tatsächlich zunehmenden Einschränkung zahlreicher Minderheitenrechte betroffen sind, werden den meisten Russen in Lettland und Estland nicht nur diese verwehrt, sondern obendrein auch noch die Staatsangehörigkeit. In beiden Fällen sind erhebliche Spannungen mit dem Mutterland die Folge. Westliche Sicherheitsexperten befürchten, daß es deshalb zu gewaltsamen Auseinandersetzungen in oder zwischen den beteiligten Staaten kommen könnte.

Angesichts dessen war und ist die westeuropäische (Minderheiten-)Politik in Osteuropa in den vergangenen fünf Jahren von Inkonsequenz, Ignoranz und eigenen politischen Interessen geprägt, hinter denen das Ziel einer langfristigen Stabilität zurückstehen muß. Bricke warnt dringend vor der westeuropäischen Praxis „widersprüchlicher oder widersprüchlich auslegbarer Normen“ und den „doppelten Standards“. Dies sei eine Politik, die seit dem Ersten Weltkrieg historische Tradition habe. Zweierlei Maßstäbe weckten den Verdacht, westeuropäische Institutionen seien an einer wirklichen Integration osteuropäischer Länder nicht interessiert, oder sie böten zumindest den EU- Anwärtern die Möglichkeit, geforderte Auflagen mit einem Fingerzeig nach Westen abzulehnen.

Neben der Forderung, die Unterscheidung zwischen alten und neuen Minderheiten abzuschaffen, schlägt die Studie deshalb als zukünftige Grundlagen einer neuen, einheitlichen EU-Minderheitenpolitik unter anderem vor: Auflagen in der Minderheitenpolitik mit der Vergabe von EU-Wirtschaftshilfe zu verknüpfen, bessere und strengere Sanktionsmechanismen zu entwickeln und Minderheiten sowie Nichtregierungsorganisationen (NGO) durch Dezentralisierung von Entscheidungen stärker in das politische Geschehen einzubinden.

„Der präventive Schutz der Minderheiten ist eine wichtige Voraussetzung für die Sicherung des Friedens im Östlichen Mitteleuropa“, faßt Bricke seine Analysen zusammen und verweist auf das abschreckende Beispiel der Zwischenkriegszeit: „Kurzfristige Interessenpolitik ließ das Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes scheitern und gab schließlich Hitler den Weg frei für seine von Tod und Vernichtung begleitete rassistische Minderheitenpolitik in Europa.“

Dieter W. Bricke: „Minderheiten im östlichen Mitteleuropa. Deutsche und europäische Optionen“. Hrsg. von der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen; Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden 1995, 196 Seiten, 39DM