Der Erlkönig aus Peking

■ Beim Besuch des chinesischen Staatspräsidenten Jiang Zemin in Deutschland geht es vor allem um gute Wirtschaftsbeziehungen

Bonn (taz) – Wenige Tage vor dem Bonn-Besuch ihres mächtigsten Politikers, Jiang Zemin, demonstrierte die Pekinger Regierung, was sie von Dissidenten und ausländischen Kritikern hält: Die Verhaftung des US-amerikanischen Staatsbürgers und Menschenrechtsaktivisten Harry Wu am Wochenende zeigt, daß die chinesischen Machthaber in Fragen der Menschenrechte weiterhin hart bleiben und internationale Kritik konsequent ignorieren.

Beim heute beginnenden Besuch von Chinas Staatspräsident Jiang Zemin in der Bundesrepublik wird die Anklage gegen Harry Wu kaum eine Rolle spielen. Zemin amtiert in Personalunion als Staatspräsident, Chef der Kommunistischen Partei und Oberbefehlshaber der Streitkräfte im bevölkerungsreichsten Land der Erde. Im Gegensatz zu Premier Li Peng, der vor einem Jahr Deutschland besuchte, gilt der ehemalige Bürgermeister von Shanghai als relativ unbelastet, was das Massaker auf dem Tienanmen am 4. Juni 1989 angeht. Der 68jährige designierte Deng-Xiaoping-Nachfolger zitiert vor deutschen Gästen gerne Sätze aus Goethes „Erlkönig“.

Aber nicht lyrische Neigungen, sondern Wirtschaftsinteressen bestimmen den Zeitplan Jiang Zemins. Als „sehr wirtschaftslastig für einen Präsidenten“ gilt die Staatsvisite, die heute mit einem Besuch in Stuttgart beginnt. Im Sindelfinger Mercedes-Werk sollen Absichtserklärungen für ein Milliardenprojekt mit dem Daimler-Benz-Konzern unterzeichnet werden. Gemeinsam mit einheimischen Partnern soll der Konzern in China eine Motorenfabrik und pro Jahr 60.000 Kleintransporter bauen. In Bonn, Essen und München will der Gast mit den Chefs von Siemens, BMW, Bertelsmann, Allianz, Volkswagen und Audi sprechen. Auch die ICE-Hersteller hoffen aufs große Geschäft.

Den deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen haben die Proteste deutscher Menschenrechtsgruppen gegen einen verärgerten Li Peng im vergangenen Jahr jedenfalls nicht geschadet: Der Handel zwischen beiden Ländern blüht und hat 1994 mächtig zugelegt. Für kein anderes Land wurden im vergangenen Jahr in Bonn höhere Hermes-Bürgschaften zugesagt als für China (fast drei Milliarden Mark). Als Lieferant von Waren nimmt China unter allen deutschen Handelspartnern Platz 11 ein, als Zielland deutscher Exporte immerhin Rang 15.

Die Bonner Bemühungen um die Förderung von Handel mit und Investitionen in China decken sich mit den Bemühungen der EU- Kommission. Das Gremium schlug kürzlich dem Ministerrat vor, das Reich der Mitte durch wirtschaftliche Einbindung aus seiner Isolation langsam zu lösen und näher an den Westen heranzuführen. Mit Ausnahme des Verbots von Waffenlieferungen hat die EU alle Sanktionen, die sie nach 1989 gegen China verhängt hatte, wieder aufgehoben. Wirtschaftliche Liberalisierung soll auf Dauer auch Möglichkeiten für eine Einflußnahme und für eine politische Liberalisierung schaffen.

Die Hoffnung der Pekinger und Bonner Regierungen, daß sich diesmal die Proteste gegen Menschenrechtsverletzungen nicht wiederholen, könnte sich als trügerisch erweisen: amnesty international, die Jungen Liberalen und die Tibet Initiative wollen Jiang Zemin auf den Stationen seiner Reise mit Mahnwachen und Demonstrationen wieder mit unangenehmen Wahrheiten über Arbeitslager, Exekutionen und Folter konfrontieren.

Amnesty international hat den Bundeskanzler aufgefordert, von Jiang Zemin die Einhaltung der Menschenrechte einzufordern. Der Bundesregierung wirft amnesty vor, sie habe ihr Versprechen gebrochen, den Ausbau der Beziehungen zu China vom Schutz der Menschenrechte abhängig zu machen. Die politische und wirtschaftliche Kooperation zwischen den beiden Ländern habe bislang keinen Einfluß auf die Einhaltung der Menschenrechte gehabt. In Bonn soll dem chinesischen Präsidenten immerhin eine Liste mit den Namen politischer Gefangener übergeben werden, für die sich die Bundesregierung einsetzen will. Ob sie seit dem Wochenende auch den Namen Harry Wu enthält, war gestern nicht zu erfahren. Hans Monath

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