Ist der Tschetschenien-Krieg verfassungswidrig?

■ Rußlands Verfassungsgericht überprüft seit gestern einige Dekrete von Präsident Jelzin / Durchbruch bei russisch-tschetschenischen Verhandlungen in Grosny

Moskau (taz) – „Wir werden beweisen, daß die politischen Mittel, die Krise zu lösen, erschöpft waren. Wir werden zeigen, daß im Dezember 1994 die Verpflichtungen des Präsidenten den Einsatz von Gewalt erforderten“, meinte der Stellvertretende Premierminister Sergej Schachrai am Vorabend der Eröffnungssitzung des russischen Verfassungsgerichts. Sieben Monate nach dem Einmarsch in Tschetschenien soll es sich auf Antrag des Parlaments mit der Verfassungsmäßigkeit desselben befassen.

Nach beinahe zweijähriger Zwangspause meldet sich das Gericht damit in der Öffentlichkeit zurück. Streitereien zwischen Exekutive und Legislative um die Besetzung des elfköpfigen Gremiums hatten dessen Arbeit gelähmt. Mittlerweile gehört auch Verfassungsrichter Valeri Sorkin wieder in den Kreis der höchsten Richterschaft. Während des Putsches der Opposition im Oktober 1993 hatte er eine unrühmliche Rolle gespielt und offen für die Rebellierenden um Alexander Rutzkoi Partei ergriffen.

Die beiden Kammern des russischen Parlaments hatten im April Klage eingereicht. Drei Dekrete des Präsidenten und eine Verfügung der Regierung, deren normativer Charakter als Begründung genommen wurde, „die Verfassungsgesetzlichkeit und Rechtsordnung“ auf dem Territorium Tschetscheniens wiederherzustellen, stehen im Mittelpunkt des Rechtsstreits. Eine der wichtigsten Fragen lautet, ob es verfassungsmäßig richtig war, die Armee und nicht Truppen des Innenministeriums nach Tschetschenien zu schicken. Schließlich sei, so die Kläger, die Kaukasusrepublik kein Ausland, sondern Teil der Russischen Föderation.

Wohl kaum ist mit einer Entscheidung zu rechnen, die die Präsidentenerlasse und den Kriegszug in Tschetschenien grundsätzlich für verfassungswidrig erklärt. Beobachter gehen eher davon aus, daß das Gericht einzelne „normative Akte“ bemängelt, die im Widerspruch zur Verfassung stehen. Nach dem neuen Reglement des Gerichts könne es nur auf der Grundlage von Dokumenten urteilen, das Handeln von Politikern oder Armeekommandeuren entziehe sich seinem Zugriff, erklärte der Vorsitzende.

Durchbruch in Grosny

Grosny (AFP) – Bei den Verhandlungen zwischen Russen und Tschetschenen über die Zukunft der Kaukasusrepublik ist gestern in Grosny ein Durchbruch erzielt worden. Beide Seiten seien sich jetzt einig, wie sie mit der Frage des künftigen Status Tschetscheniens umgehen wollten, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Eine vollständige Lösung sei aber noch nicht erreicht. Offenbar akzeptierten die Tschetschenen einen russischen Vorschlag, die Frage nach dem Status von Tschetschenien erst nach der Abhaltung von Wahlen zu entscheiden. khd