Traum-Tänzerin träumt nicht

Wie die ukrainische Olympiasiegerin Alexandra Timoschenko abgeklärt im schwäbischen Söflingen an ihrem Lebensplan bastelt  ■ Von Holger Gertz

Die Traum-Tänzerin tanzt nicht mehr selbst, sie läßt tanzen. In einer Ecke der Trainingshalle der TSG Söflingen steht Alexandra Timoschenko (23) und schaltet den Kassettenrekorder aus, damit die vier kleinen Gymnastinnen sie besser hören können. Die haben ein bißchen zuviel rumgelabert, Timoschenko hat sich das eine Zeitlang angesehen, aber jetzt ist Schluß. „Ihr müßt euch besser konzentrieren“, sagt sie, und die Mädchen versuchen so auszusehen, als konzentrierten sie sich besser. Alexandra Timoschenko macht die Musik wieder an. Noch ein paar Übungen zum Abschluß, dann dürfen alle zum Umziehen. Später wird sie mit einigen Müttern reden, die hoffen, daß ihre Töchter irgendwann so gut wie Alexandra sein werden, wenn sie lange genug mit ihr üben. Da müsse sie oft dämpfen, sagt Alexandra Timoschenko: „Die müssen einsehen, daß nicht jede richtig gut sein kann.“

Manchmal geht es ihr bestimmt so wie zum Beispiel Franz Beckenbauer auf dem Trainingsplatz: Sportler zu coachen, von denen man weiß, daß sie weniger begabt sind als man selbst, kann eine nervende Angelegenheit sein. Alexandra Timoschenko war vor drei Jahren zum Schluß der Karriere Olympiasiegerin in der Rhythmischen Sportgymnastik, die Beste der Welt, und wenn sie über die Gymnastikmatte schwebte, war es so, als stünden sogar die Sportgeräte in ihrem Bann. Schnell könnte so einer da die Geduld ausgehen, wenn den Kleinen der Ball wegflutscht, das Band sich verheddert, der Reifen nicht da landet, wo er soll. Aber Alexandra verliert die Ruhe nicht. „Als Trainerin hat man ja Verantwortung“, sagt sie, „da muß man schon aufpassen, was man sagt.“

Seit Januar ist sie bei der TSG Söflingen in Ulm angestellt; der Söflinger Vereinsvorsitzende Walter Feucht kannte sie schon länger und holte sie in die kleine Stadt, obwohl amerikanische Klubs viel bessere Angebote gemacht hatten. „Die hätten ihr da einen goldenen Palascht gebaut“, glaubt Feucht, aber Alexandra wollte lieber in der Nähe ihres Freundes Oleg bleiben, der früher Fußballspieler in Kiew war und mittlerweile in Wien als Banker arbeitet. Bevor sie nach Söflingen ging, war auch sie in Wien, zwei Jahre lang, aber sie fand keinen Job.

Bei der TSG läßt es sich bestimmt ganz gut leben; sportlich, weil das ein großer Verein mit 4.000 Mitgliedern und fünf eigenen Hallen ist, und auch sonst. Der Klub, sagt Feucht, habe engagierte Sponsoren. Die Abteilung Gymnastik ist erst eingerichtet worden, seitdem Alexandra dabei ist, 40 Kinder bis zu zwölf Jahren haben sie aufgenommen, und in jedem Jahr machen sie einen Sichtungslehrgang, zu dem kleine Gymnastinnen von überallher kommen. „Die Eltern rufen mich vorher an und sagen: Meine Tochter, die müssen Sie nehmen, sie ist ja so begabt“, sagt Feucht, aber da sind sie unerbittlich: Alexandra nimmt nur die Allerbesten in die Trainingsgruppe auf, und das sind vielleicht fünf pro Jahrgang, nicht mehr.

Sie hat damals in Kiew angefangen, weil der Arzt ihr Sport verordnet hatte. Irgendwann hat sie gemerkt, daß ihr Talent die einzige Möglichkeit war, besser zu leben als die Eltern daheim. Der Vater ist in Pension, die Mutter Verkäuferin, gemeinsam bewachen die beiden einen Parkplatz, um sich was dazuzuverdienen. Alexandra hilft regelmäßig mit Geld. Alles, was sie hat, hat sie durch den Sport geschafft, „diese Motivation fehlt den Mädchen hier“. Wäre sie hier geboren, glaubt Alexandra, „wäre es mir früher besser gegangen. Aber Olympiasiegerin geworden wäre ich nie.“

Trotzdem, irgendwann muß auch was anderes kommen als Gymnastik. Manchmal kann Walter Feucht Alexandra Timoschenko noch überreden, bei einer Gala mitzumachen. Man könne dann eine Stecknadel fallen hören, sagt er, still sitze das Auditorium und schaue und staune. Danach hat Feucht schon oft gesagt, sie solle doch wieder öfter auftreten, „du bist doch noch immer die Bescht' von alle“. Aber Alexandra sagt, sie habe genug. Die Zeit als Sportlerin ist vorbei, und als Trainerin alt werden will sie auch nicht. In Wien hat sie jeden Tag Deutsch gelernt, jetzt paukt sie Englisch.

Daheim in der Ukraine gebe es ein Sprichwort, sagt sie: „Soviel Sprachen du sprichst, sovielmal bist du ein Mensch.“ Vielleicht wird sie irgendwann als Dolmetscherin arbeiten. „Als Gymnastin kann man von seinen alten Erfolgen nicht ewig leben“, sagt Alexandra Timoschenko, die noch immer eine Traum-Tänzerin ist. Aber keine Traumtänzerin.