Moruroas strahlendes Geheimnis

Atoll bröselt nach Atomtests auseinander / Frankreich läßt Untersuchung des Strahlenrisikos bisher nicht zu / Einzelfunde beängstigend  ■ Von Thomas Worm

Für Aitoa Tanematea sollte der neue Job Unerwartetes bringen. Das französische Kommissariat für Atomenergie schickte den Feger 1976 nach Moruroa. Zwar hat es den Tahitianer beunruhigt, als das türkisblaue Wasser der elf Kilometer durchmessenden Lagune bei jeder unsichtbaren Atomzündung tief im Atollboden plötzlich wie kochende Milch aufschäumte.

Doch nach drei Jahren Arbeit auf Moruroa konnte Tanematea dem uralten Impuls nicht mehr widerstehen: Trotz Verbots angelte er Fische in der Lagune. Ein unbekömmliches Mahl. Als ihm die Haare büschelweise ausfielen, Eiterwunden den Körper bedeckten und sich seine Haut in Fetzen ablöste, suchte er den Doktor auf. Die Medikamente der Ärzte vom „Zentrum für Atomexperimente“ (CEP) halfen nichts. Man nahm ihm das rechte Auge heraus. Ein hoher Preis für das bißchen Fisch. Was aber den Leidensweg des Fegers genau verursacht hatte, darüber schwiegen die CEP-Ärzte. Eisern.

„Großes Geheimnis“ heißt Moruroa in der Sprache der Maohi. Die Ureinwohner machen zwei Drittel der insgesamt 200.000 Menschen zählenden Bevölkerung Französisch-Polynesiens aus. Moruroa – der Name gleicht dem Schicksal. Ein großes Geheimnis blieb bis auf den heutigen Tag, was die 187 Atomexplosionen seit 1966 auf Moruroa und dem kleineren Nachbaratoll Fangataufa tatsächlich angerichtet haben, davon 44 Detonationen unter freiem Himmel. Gerade derzeit wieder versichen Politiker der Grande Nation, jene titanischen Erdstöße unterhalb der Riffe des pazifischen Tuamotu-Archipels seien harmlos. Präsident Chirac möchte ab September weitere achtmal das atomare Feuer im Vulkangestein Moruroas entzünden. 1992 noch hatte Chiracs Vorgänger François Mitterrand eine Testmoratorium verkündet, genau wie Großbritannien, die USA und Rußland.

Schon immer haben die französischen Atomabsolutisten den Deckmantel des Militärgeheimnisses über die strahlende Südseeinsel gebreitet. In der 20.000 Kilometer entfernten Nuklearprovinz – die rechtlich zur Europäischen Union gehört – haben der Pariser Außen- und Verteidigungsminister das letzte Wort. Deshalb sind Informationen über mögliche Umweltschäden, über die Zahl der Atomtestopfer kaum zugänglich.

Seit 1975 haben über 120 Atombomben den Basaltboden der nur wenigen hundert Meter breiten Riffinsel durchlöchert. Doch daß radioaktives Plutonium und Cäsium, Strontium und Jod aus den 800 bis 1.200 Meter tiefen Explosionskammer durch Risse nach außen dringt, haben die französischen Behörden von jeher bestritten. Unabhängige Experten durften nicht länger als ein paar Tage auf die Inseln; Probeentnahme und Aufenthaltsorte waren zudem streng reglementiert. So weilte der populäre Vulkanologe Haroun Tazieff 1982 ganze drei Tage auf Moruroa. Immerhin schätzte Tazieff aufgrund seines Besuchs, daß bei einem Test 1979 ein eine Million Kubikmeter großer Brocken vom Atollring abgesprengt wurde. Im Sommer '79 war eine Atombome in halber Höhe im Bohrschaft stecken geblieben. Die Militärs zündeten sie trotzdem – in nur 400 Meter Tiefe. Die von der Explosion ausgelöste Flutwelle verletzte auf Moruroa einige Menschen und rauschte durch den gesamten 1.500 Kilometer langen Tuamoto-Archipel. Erst 1985 gab die Pariser Regierung „den Unfall vom 25. Juli 1979“ zu. Bis dahin hatten die Behörden behauptet, die Flutwelle sei natürlichen Ursprungs gewesen.

1979 waren die Schäden durch die Atomexplosionen in der 24 Kilometer langen Riffkrone bereits erheblich. In französischen Militärkarten von 1980 sind 3,50 Meter breite, kilometerlange Spalte verzeichnet, die längs und seitwärts des Atollrings klaffen. Damit nicht genug. „1981 warnten auf dem Atoll arbeitende Ingenieure vor einem weiteren Absinken Moruroas. Nach jedem unterirdischen Atomversuch sinke Moruroa zwei Zentimeter in den Meeresgrund ab“, so Moruroa-Kenner Ulrich Deliu von der Gesellschaft für bedrohte Völker. Im gleichen Jahr hatte ein Zyklon mit Plutonium verseuchtes Erdreich in die Lagune geschwemmt, so daß heute etwa 20 Kilogramm des Ultragiftes auf dem Lagunenboden lagern.

Auch das erste internationale Wissenschaftlerteam unter Leitung des neuseeländischen Strahlenforschers Atkinson wurde 1983 vom Militär an die kurze Leine gelegt. Nur ein Experiment war der Atkinson-Gruppe gestattet. Ihre Messungen in der Zwischenraumluft des Oberflächenterrains von Moruroa förderten Bedenkliches zutage – erhöhte Werte des radioaktiven Wasserstoffisotops Tritium. Womöglich würden Radionukleide schon innerhalb von fünf Jahren die Atmosphäre erreichen.

Prominentester Besucher Moruroas war in den vergangenen zehn Jahren Meeresforscher Jacques Cousteau. Seine Unterwasser-aufnahmen von meterdicken Rissen in den Inselflanken, die das Forschungs-U-Boot in bis über 200 Meter Tiefe verfolgte, wanderten 1987 um die ganze Welt. Außerdem stellte Cousteau wenige Tage nach einem Atomtest hohe Konzentrationen von radioaktivem Jod 131 im Sediment der Lagune fest und ebenfalls im Plankton. Da Jod 131 eine Halbwertszeit von nur acht Tagen besitzt, konnte es kein Überbleibsel der atmosphärischen Atomversuche der Vergangenheit sein, sondern mußte von unterirdischen Explosionen herrühren. Der Cousteau- Report allerdings machte sich die nie belegte offizielle Erklärung des Versuchspersonals von Moruroa zu eigen: Das Jod sei durch die defekte Ventilklappe eines Testbohrlochs an die Oberfläche gelangt, nicht durch einen Gesteinsriß. Selbst wenn man die Version glaubt, mußten die Franzosen einen verheimlichten Unfall eingestehen, um die Existenz des Jods zu erklären. Indizien für die Brüchigkeit des Atolls lieferte 1988 auch die Aussage des französischen Vizeadmirals Thieraut, der laut Greenpeace geäußert haben soll, daß gewisse Tests mit großer Sprengkraft wieder auf der Nachbarinsel Fangataufa stattfinden würden, damit Moruroa nicht auseinanderbreche. Das Statement wurde offiziell dementiert.

Tatsächlich verlagerte das etwa 3.000köpfige Versuchspersonal auf Moruroa in den 80er Jahren die Tests in den Lagunenboden, nachdem sich der Riffkranz des Atolls mit Sprengungen im Abstand von 500 Metern als zu mürbe erwiesen hatte.

Den Zustand der porösen Pazifikinsel beschreibt das geothermische Computermodell der Professoren Hochstein und O'Sullivan von der neuseeländischen Universität in Auckland. Dieses 1985 entwickelte Simulationsprogramm erscheint vielen unabhängigen Forschern plausibel. Dem Modell zufolge passiert folgendes im Basaltboden: Das von Seewasser durchtränkte Gestein, wo die Atombombe detoniert, setzt ein künstliches geothermisches System in Gang. Die extrem aufgeheizte, radioaktive Explosionskammer steigt wie in einem Kamin nach oben, und zwar mit einer Geschwindigkeit von mindestens zehn Metern pro Jahr. Bei einer Sprengtiefe von 500 Metern würden die Radionuklide demnach bis zur Oberfläche maximal 50 Jahre benötigen – und nicht ein Jahrtausend, wie die französischen Behörden mehrfach verlautbaren ließen.

Offenbar läuft die Verbreitung sogar noch schneller. Ein Greenpeaceschiff sammelte 1990 Plankton außerhalb der Zwölfmeilensperrzone rund um Moruroa. Resultat: erhöhte Werte des strahlenden Cäsiumisotops 134. Da Cäsium 134 nicht im Fallout von atmosphärischen Atomtests vorkommt, kann es nur von den unterirdischen Nuklearversuchen stammen. Selbst das vorhandene lückenhafte Material läßt also nur einen Schluß zu: Das wundgebombte Atoll Moruroa gleicht einem zersplitterten Gehäuse, durch dessen Risse das strahlende Gift bereits nach draußen dringt.

Mit tödlichen Folgen: Die UN prognostizieren die Anzahl der Strahlentoten aller ober- sowie unterirdischen Atomtests im Pazifik allein bis 1980 auf 15.000 Menschen. Die weitaus meisten Tests gehen auf Frankreichs Konto.

Dabei existierte bis 1980 in Polynesien nicht einmal ein Krebsregister. Und die offizielle Krebsstatistik der Atomkolonie gibt nur die in Hospitälern erfaßten Patienten wieder und verschweigt die traditionell behandelten Fälle.