Angst ist unabhängig von wirklicher Bedrohung

■ Warum die Kriminalitätsraten sinken, aber die Menschen immer ängstlicher werden, erklärt Psychologe Stöber / Beruhigende Nachrichten haben eine hohe Vergessensrate

Laut Kriminalstatistik der Innenverwaltung sinkt die Verbrechensrate in der Stadt. Ungeachtet dessen wächst die Angst vor Überfällen und Gewalt, ergeben Umfragen. Über diesen Widerspruch sprach die taz mit Joachim Stöber (31), Diplompsychologe an der Freien Universität.

taz: Obwohl die Kriminalitätsrate sinkt, steigen die Angstgefühle der Menschen. Woran liegt das?

Joachim Stöber: Die Medien spielen eine große Rolle. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, daß bei der Einschätzung von Sterbewahrscheinlichkeiten die besonders spektakulären Todesarten überschätzt werden. Zum Beispiel Tod durch Tornadoabsturz oder Mord. Unspektakuläre Todesfälle wie Asthma oder Diabetes aber werden unterschätzt. Man hört davon wenig, und die Menschen meinen, diesen Tod zu sterben, sei unwahrscheinlich.

Die Zeitungen melden aber auch, daß die Kriminalitätsrate sinkt. Dennoch bleibt die Angst.

Die positiven Nachrichten stehen nicht in den Schlagzeilen auf der ersten Seite. Die Schlagzeile ist „Neun Tote in der S-Bahn“. Außerdem haben beruhigende Nachrichten eine hohe Vergessensrate.

Die wenigsten Menschen sind wirklich schon einmal überfallen worden. Anstatt auf diese Erfahrung zurückzugreifen, erinnern sie sich ihres Schlagzeilen-Wissens und haben Angst?

Die Aufmerksamkeit auf die negative Nachricht hat auch eine Überlebensfunktion. Es ist ganz wichtig zu wissen, wo es gefährlich ist und wie man die Gefahr vermeiden kann. Zu wissen, wo der Tiger im Wald ist, das ist wichtig.

Ich denke, die Berliner fühlen sich aber auch dadurch bedroht, daß das Verbrechen anders wird. Schutzgelderpressungen der Mafia betreffen doch den durchschnittlichen Berliner nicht. Aber die Schlagzeilen darüber vermitteln: Es wird gefährlicher. Nehmen Sie die Hai-Attacke: Unter 30 Millionen Menschen wird vielleicht einer von einem Hai attackiert, also eine verschwindend geringe Zahl. Aber die Vorstellung ist so schrecklich, daß viele Angst haben.

Sind es negativen Nachrichten, die diese Ängste auslösen, oder auch fiktive Bilder aus Filmen?

Die aus Filmen und Nachrichten gespeicherten Bilder kommen hoch, wenn man eine ähnliche Situation erlebt, auch wenn man genau weiß, daß es nicht die eigene Erfahrungswelt ist, aus der sie stammen. Gehe ich nach dem Film „Mord im Parkhaus“ durch ein Parkhaus, kommt mir sofort die Assoziation zu dem Film. Dadurch, daß man von bestimmten Gefahren häufig hört, wird das Gehörte auch gekoppelt mit den eigenen Wahrnehmungen.

Gibt es denn außer den Medien und der Überlebensfunktion noch einen weiteren Grund für die Angstgefühle?

Weitere Gründe sind sicher auch die Großstadt und die Anonymisierung. Es ist ein sozialpsychologisches Phänomen, daß dort, wo viele Menschen Zeugen eines Unglücks werden, keiner hilft. Es gibt eine Diffusion der Verantwortung; jeder denkt, der andere kann helfen. Das macht Großstadtmenschen angst.

Wie kann man die Angstgefühle abbauen, wenn man genau weiß, sie sind nicht begründet?

Das ist sehr schwierig. Natürlich gehört dazu ein gutes Selbstwertgefühl. Die Bedrohung entsteht ja dadurch, daß man denkt, man habe keine Ressourcen, um die Situation zu bewältigen. Und dann bekommt man Angst.

Aber wir müssen auch mal von den überzogenen Sicherheitsansprüchen wegkommen. Wir denken immer, daß es eine sichere Welt gibt. Daß wir alles kontrollieren können und alles ungefährlich ist, wenn wir nur alles richtig machen. Diese Idealvorstellung ist falsch. Tatsächlich ist es eine gefährliche Welt, die immer sicherer wird. Gerade hier in Deutschland ist es sicherer als je zuvor. Interview: Nina Kaden